· 

Hüttenabend

 

„Was wollt ihr trinken? Wein? Whiskey?“

 

Marianne schritt zur Bar in der kleinen Hütte. Ganz allmählich wärmte das Kaminfeuer den Wohnraum mit den beiden langen Sofas. Hinter den Fenstern fiel unermüdlich der Schnee. Es war nichts zu sehen außer der weißen Pracht und den gepuderten Berggipfeln, die in der einfallenden Dunkelheit gerade noch so am Horizont zu erkennen waren.

 

„Nach der Wanderung hier hoch und dem reichhaltigen Essen passt doch Rotwein ganz gut, oder?“ Claudia trocknete sich ihre langen blonden Haare ab, während sie Marianne half, die Gläser zu befüllen. „Die Wanne ist jetzt frei, wenn einer von euch gebadet ins neue Jahr starten will?“, sprach sie in Richtung ihrer Ehemänner, die noch im Feuer herumstocherten.

 

„Wir werden uns bestimmt nicht einig, wer zuerst darf. Wir gehen dann im neuen Jahr zusammen, oder Thorsten?“

 

Thorsten erhob sich, ohne darauf einzugehen. Er ging zu einem der Sofas, wo er sich tief ins grüne Polster sinken ließ und sich über seine fast vollständig ergrauten Haare fuhr. Peters Lachen erstarb und er warf seiner Frau, Claudia, einen verdutzten Blick zu.

 

„Ist mit Thorsten alles in Ordnung? Er ist schon die ganze Wanderung über so still gewesen?“ Claudia flüsterte fast in Mariannes Ohr, während die beiden den Wein zu ihren Männern trugen. „Muss er sein Restaurant denn wirklich schließen im nächsten Jahr?“

 

„Erwähn das Thema lieber nicht. Ich habe schon befürchtet, er wird auch an Silvester nur in seinem dunklen Arbeitszimmer sitzen und grübeln. Aber es war sein Vorschlag hierher zu kommen, also vielleicht hakt er das Thema ja endlich ab.“

 

„Es tut Peter auch wirklich sehr leid, dass er ihm dieses Investment empfohlen hat.“ An Claudias Gesicht war abzulesen, dass sie das sagte, weil es sich so gehörte. Sie wusste nicht, was Peter leidtat, sie wusste noch nicht einmal, was da genau passiert war. Aber sie hatte nicht vor das Thema zu vertiefen, das unsichtbar im Raum schwebte und die Luft doch zum Knistern brachte. Ähnlich wie die Flammen und die Holzscheite im Kamin knisterten.

 

Sie nahmen auf den weichen Polstern Platz. Marianne suchte den Blick ihres Mannes, der jedoch mit vor der Brust verschränkten Armen auf den Boden starrte. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Es war zwar seine Idee gewesen auf dieser Hütte in das neue Jahr zu starten, doch sie hätte wissen müssen, dass er das Jahr eigentlich überhaupt nicht begrüßen wollte, wenn das hieß, den Untergang seines Restaurants willkommen zu heißen. Niemandem schien aufzufallen, wie er seinen Rücken gegen das Sofa presste.

 

Ehe das unbehagliche Schweigen zu lange andauern konnte, erhob Peter seine Stimme. So war es in all den Jahren ihrer Freundschaft schon immer gewesen. Er war der ewige Klassenclown.

 

„Also dann lasst uns anstoßen. Darauf, dass wir diese beschauliche Hütte gemietet haben, dass wir gleich ein herrliches Silvesterfeuerwerk im Tal beobachten können und dass das nächste Jahr voll so vieler froher Botschaften ist, dass die Schmerzen des letzten Jahres gemildert werden. Ich hoffe doch, unser gemeinsames Bad leitet das ganze gebührend ein.“

 

Marianne rang sich zu einem verkniffenen Lächeln durch, Thorsten reagierte überhaupt nicht und Claudia gab ein kopfschüttelndes Kichern von sich. Sie war es gewöhnt über seine Witze zu lachen, die sie alle ein wenig peinlich berührten. „Jetzt hör doch auf, Peter.“

 

Sie stießen an. Peter grinste von einem Ohr zum anderen und bemerkte nicht, wie Thorsten ihn musterte. Seine Augen wanderten über die Wohlstandsplauze und das schicke, weiße Hemd. Die beiden waren seit der Schule befreundet und zum ersten Mal mischte sich Hass in Thorstens Blick.

 

„Ich könnte mich an so ein Silvester gewöhnen, ohne unsere Söhne und das ständige Thema Fußball.“ Marianne lehnte sich zurück, bereit das anstrengende Jahr ausklingen zu lassen. Doch so ganz wollte sich die Entspannung nicht einstellen. Von Thorsten ging etwas so Ungemütliches aus, dass sich ihr Nacken verspannte.

 

„Da sagst du etwas.“ Claudia nahm einen Schluck Wein und verschwieg, dass sie ihrem Sohn bereits drei Nachrichten geschickt hatte.

 

„Lasst uns ein Trinkspiel spielen“, erhob sich Thorstens Stimme unvermittelt über das Pfeifen des Windes draußen.

 

„Bitte was?“

 

„Ach Schatz, lass das doch. Wir wollen ganz in Ruhe …“

 

„Ihr habt den Mann gehört. Das ist ein vernünftiger Vorschlag. An was für eines hast du denn gedacht?“, schnitt Peter Marianne das Wort ab.

 

„An dieses Spiel, wo der Reihe nach einer sagt, was er noch nie getan hat und wer so etwas schon einmal getan hat, muss trinken.“

 

„Woher hast du denn diesen Unsinn?“ Marianne konnte sich nicht erinnern, jemals so etwas mit Thorsten gespielt zu haben.

 

„Das habe ich von unserer Tochter.“

 

„Ist das jetzt dein Ernst?“ Doch auch sie musste in das Gelächter von Peter und Claudia miteinstimmen. Für einen Moment war die Hütte bis auf den letzten Zentimeter von Lachen gefüllt. Nur Thorsten hatte sich schnell wieder im Griff und nippte von seinem Wein.

 

„Na dann lasst uns spielen. Wir sind doch alle Freunde. Wir haben keine Geheimnisse.“

 

„Wenn du das sagst, Claudia.“ Thorsten rutschte auf dem Sofa nach vorn. Sein Glas am Stiel zwischen seinen Fingern drehend entstand ein Glanz in seinen Augen, den die anderen nicht wahrnahmen.

 

„Wer fängt an?“ Claudia rutschte ebenfalls auf dem Polster nach vorne zur Kante.

 

„Immer der, der fragt.“

 

Marianne warf ihrem Mann einen unsicheren Blick zu. Sie war noch nicht überzeugt von dieser Idee. „Also gut … Ich habe noch nie jemandem einen Parkplatz weggenommen“, begann Claudia.

 

„Das war ja klar“, seufzte Peter und setzte sein Glas unter dem Gelächter der Frauen an die Lippen. „Ich hatte es eilig und die Dame hätte sicher auch zu jeder anderen Zeit einkaufen gekonnt.“

 

„War das nicht sogar ein Behindertenparkplatz, den du ihr weggeschnappt hast?“

 

Während die beiden Frauen noch mehr lachten, war Thorstens Stimme ganz ruhig. Er verzog keine Miene.

 

„Ach mein Gott, ich war so schnell wieder draußen, das hat doch keinen gestört.“ Peter erwiderte Thorstens Blick und erwartete, dass er gleich ebenfalls zu grinsen anfing. Doch das tat er nicht.

 

„Gut, ich bin dran.“ Peter räusperte sich. „Ich habe noch nie eine Diät abgebrochen.“ Unter dem Protest, dass das bloß daran lag, dass er noch keine gemacht hatte, tranken die Frauen. Thorsten war an der Reihe und er spürte seinen Puls steigen. Doch es war noch zu früh. Peter war noch zu nüchtern, um es zuzugeben. So verlängerte Thorsten das Spiel. Er wusste immerhin, dass Peter nach einem schlechten Spiel auf dem Golfplatz mal seine Schläge umhergeworfen hatte, dass er seine Sekretärin gefeuert hatte, weil ihm ihr Kaffee nicht geschmeckt hatte und dass er sich wüst beschwerte, wenn sein Auto aus der Werkstatt kam und nicht alles picobello war.

 

Im Grunde war Thorsten lange nicht aufgefallen, was Peter für ein Arschloch war. Oder er hatte geglaubt, es gäbe eine Grenze. Und dass er diese Grenze war.

 

Claudia kannte heute auch keine Grenze. Sie vermisste ihren Sohn und dieses Spiel, sowie der steigende Alkoholpegel lenkten sie ab. So musste Peter unter schallendem Gelächter zwei Gläser Wein leeren. Nur Marianne traute dem Ganzen nicht. Sie hörte nicht auf, Thorsten immer wieder Blicke zuzuwerfen, die er jedoch ignorierte. Um halb zwölf hatte sie genug.

 

„Du bist dran Thorsten“, lallte Peter, während Marianne sich erhob, um sich oben schon mal warm anzuziehen, für das Feuerwerk im Tal, das sie gleich vor der Hütte anschauen wollten. Und da Claudia zur Bar wankte, um sich Nachschub einzuschenken, war niemand am Kaminfeuer, der Thorsten davon abhalten konnte, seinen Plan endlich in die Tat umzusetzen. Den Plan, der ihn hierauf geführt hatte.

 

„Ich habe noch nie einem Freund geraten in eine Firma zu investieren, obwohl ich wusste, dass bald ein Skandal ans Licht kommt und er sein ganzes Geld verlieren wird“, presste Thorsten hervor und ließ Peter nicht aus den Augen.

 

Mit einem betrunkenen Grinsen hing er zwischen den Kissen, nur noch mit dem Oberkörper auf dem Sofa und hielt sein halbleeres Weinglas in der Hand. „Was redest du denn da?“, lachte er.

 

„Du hast mich schon verstanden.“

 

„Wir haben ja gar keinen Rotwein mehr“, rief Claudia und drehte sich zu ihnen um, in der Hand eine leere Flasche.

 

„Thorsten … Ich weiß nicht, was du meinst. Ich konnte doch nicht wissen … Das ist eben das Risiko bei Investments.“ Peter setzte sich auf, als er merkte, dass der Spaß jäh vorbei war. Die Luft in der Hütte schien kälter geworden zu sein.

 

„Du wusstest es! Du wusstest, dass der gesamte Vorstand koksend im Spielcasino erwischte wurde mit Geldern, die offiziell für wohltätige Zwecke gespendet werden sollten. Und du wusstest auch, dass sie dabei fotografiert wurden und wann diese Bilder veröffentlicht werden sollten!“

 

Thorsten hatte sich beim Reden erhoben.

 

„Was ist denn jetzt los?“, fragte Claudia und kam mit der leeren Flasche näher.

 

„Ich hatte keine Ahnung, wirklich.“

 

„Hör auf zu lügen!“ Thorsten schüttete seinen Rotwein in einer schnellen Bewegung über Peter und sein weißes Hemd.

 

„Spinnst du?“, brüllte dieser als er vom Sofa sprang.

 

„Thorsten was soll das denn?“ Claudia ging dazwischen und entriss ihm sein inzwischen leeres Weinglas. Durch den Nebel, den der Alkohol in ihrem Gehirn angerichtet hatte, begriff sie nur, dass das Spiel vorbei war.

 

„Der Journalist, der den Artikel geschrieben hat, hat dich doch gewarnt! Dich, den großartigen, wichtigen Bankier! Damit du deine Gelder abziehen kannst!“ Thorsten spuckte beim Reden und er ließ sich auch von Claudia nicht aufhalten, die weiter zwischen ihm und Peter stand und versuchte, ihn davon abzuhalten, weiter auf Peter zuzugehen, der zurückwich in Richtung Hüttentür.

 

„Jetzt beruhig dich doch! Lass das … Aaah!“, schrie sie, als Thorsten sie packte und auf das Sofa schmiss.

 

„Du hättest mich warnen können! Du hättest mir Bescheid sagen können! Dann hätte ich nicht so viel Geld verloren! Verstehst du nicht? Ich muss im neuen Jahr vielleicht mein Restaurant schließen deswegen!“

 

Peter war zu betrunken, um sich im Rückwärtstaumeln auf den Beinen zu halten. Er fiel hin und ehe er begriff, was vorging, stürzte Thorsten sich auf ihn und schlug ihm seine Faust ins Gesicht. „Du warst immer schon neidisch auf meinen Erfolg mit dem La Delicious. Auf jeden Preis den ich gewonnen habe, auf jeden Artikel!“

 

Thorsten holte aus und schlug noch einmal zu, doch seine Wut wurde nur stärker.

 

„Lass ihn in Ruhe!“, schrie Claudia und zerrte an seinem Arm.

 

„Ohne dich hätte ich nie diese Aktien gekauft! Du hast mich ruiniert, du hast zerstört, wofür ich seit meiner Jugend gearbeitet habe! Das Erbe an meinen Sohn!“

 

Blut spritzte aus Peters Nase und Thorsten hörte einen Knochen knacken, aber dem Stechen in seiner Hand nach zu urteilen könnte es auch einer seiner gewesen sein.

 

„Thorsten!“ Es war Marianne, die plötzlich mit Claudia an seinem Arm zu reißen begann. Gemeinsam zogen sie ihn von Peter herunter, der sich blutend erhob, die Hüttentür aufstieß und nach draußen in den Schnee rannte.

 

„Peter!“, rief Claudia und rappelte sich auf. Doch als sie die Hüttentür erreichte, sah sie nichts als Blutflecken im Schnee, der vom Mond angestrahlt wurde. Die kalte Luft kroch ihr augenblicklich unter die Haut. „Peter komm zurück! Es ist doch viel zu kalt draußen!“

 

Marianne starrte Thorsten fassungs- und sprachlos an. Keuchend erhob Thorsten sich und griff in seinen hinteren Hosenbund. „Er hat es verdient“, sagte er, als er die Pistole hervorzog und zur Hüttentür ging.

 

„Thorsten, wo hast du die her? Was hast du vor?“ Starr vor Schreck saß Marianne am Boden. Claudia versuchte Thorsten schreiend in den Weg zu springen, doch er stieß sie in den Schnee, als er nach draußen trat und die Dunkelheit nach seinem besten Freund absuchte.

 

Als ferner Jubel aus dem Tal klang und die ersten Raketen in den Himmel schossen und alles unwirklich erhellten, entdeckte Thorsten Peters Schatten durch den Schnee hüpfen. Er hob den Arm mit der Waffe und drückte ab.

 

Es war nur ein weiterer Knall in dieser Nacht.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0