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Der Weihnachtspsychopath

Mary hörte ihre gedrückten Stimmen, als sie sich mit frischem Glühwein der Wohnzimmertür näherte.

„Mir macht das schon ein wenig Angst. Da läuft jemand draußen rum, der als Weihnachtsmann verkleidet in Häuser einbricht und sogar Menschen tötet. Wir haben den ganzen Dezember über Weihnachtsmarkt in dieser Stadt. Wie viele Weihnachtsmänner sind wohl gerade da draußen zu finden?“

„Liebling, beruhig dich.“

„Weißt du, was ich am schlimmsten finde, Rachel? Dass dieser Psychopath immer in die am weihnachtlichsten geschmückten Häuser einbricht. Der Typ muss Weihnachten wirklich hassen. Und jetzt sieh dich mal um. Ist diese Bude nicht brutal geschmückt? Wenn Mary nicht den Preis für die beste Dekoration in der Nachbarschaft gewinnt, weiß ich auch nicht.“

„Ben, lass sie in Ruhe.“

„Ist es wirklich wahr, dass in den letzten Jahren Familie Billingham in der Parallelstraße den Preis gewonnen hat? Wir sind erst nächste Woche bei ihnen eingeladen, aber hier ist es ja schon bombastisch.“

Als wären die Worte der anderen nicht schon zerbrochene Zuckergussstangen in ihrem Kaffee, so hatte Alexandras Kommentar ihrem Baum gerade die Nadeln ausgerissen. Aber Mary setzte ihr breitestes Lächeln auf, als sie schwungvoll die Tür öffnete und mit dem Tablett voll dampfender Tassen das leuchtende Wohnzimmer betrat.

Dieses Jahr würde sie den verflixten Preis gewinnen. Sie würde die Stimmen von Ben und Alexandra Piper, den neuzugezogenen gewinnen. Und keine weinerliche Rachel und auch kein psychopathischer Mörder, konnten sie davon abhalten.

 

Am Bahnhof, knapp einen Kilometer entfernt, stieg ein Mann aus dem vollen Pendlerzug. Die aus Laut­sprechern dudelnde Weihnachtsmusik durchzuckte ihn unangenehm. Die Menschenmassen schoben sich umher, einige Geschenktüten trafen ihn in dem Chaos. All diese Verrückten waren zum Shoppen in die Stadt gekommen und verstopften nun die Züge. Und wofür? Die vielen Lichterketten an den kleinen Läden stachen in seinen Augen und der Duft nach gebrannten Mandeln ließ ihm übel werden.

Erst als er das Bahnhofsgebäude verließ und in stiller Dunkelheit auf der Straße stand, konnte er wieder tief atmen. Er hasste diese Zeit nicht, sie löste Panikattacken in ihm aus. Und ähnlich einem Erdbeben in seiner Brust, spürte er, wie sich die nächste anbahnte.

Er lockerte den Kragen seines Mantels und wischte sich mit seinem Ärmel die Schweißperlen von der Stirn unter seiner Mütze. Diesen einen Abend noch, dieses eine Mal noch, dann hatte er es geschafft. Denn danach würde er Heiligabend auch noch überstehen. Der Spuk war so gut wie vorbei. Einmal noch.

Eine Frau lief an ihm vorbei, ein kleines Mädchen an ihrer Hand. Sie sah ihn mit großen Augen an. „Mami, schau mal! Der Weihnachtsmann!"

Er schulterte seinen Rucksack und eilte in die entgegengesetzte Richtung.

 

„Möchte noch jemand einen selbstgebackenen Keks?"

Ben griff noch einmal in die Dose, obwohl seine Backen noch gut gefüllt waren. „Die schmecken unglaublich.“

„Allein die Menge ist schon unglaublich“, pflichtete Alexandra ihm bei. „So viele verschiedene Sorten. Den Glühwein hast du auch selbst gemacht und dann diese Dekoration hier überall." Alexandra zeigte auf den perfekt geschmückten Baum, die Socken am Kamin und den Fensterschmuck, der es verschneit und vereist aussehen ließ.

„Du liebst Weihnachten, oder?“

„Nun ja, ein wenig. Ich liebe es, das Fest der Liebe mit meiner Familie feiern zu können. Wir genießen diese Zeit des Zusammenseins.“ Mary stand auf und rief: „Mädchen, kommt her und zeigt unseren Gästen eure neuen Pullover.“

Postwendend öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer und ihre Zwillinge erschienen in identischen Elfenpullovern. Es folgten die Bekundungen ihrer Gäste, wie süß und bezaubernd die Mädchen aussahen. „Und was habt ihr jetzt vor?“

„Wir bauen jetzt draußen einen Schneemann und dann schreiben wir an den Weihnachtsmann!“ Sie sagten es im Chor, ehe sie auf ein Handzeichen von Mary das Zimmer wieder verließen. Alexandra und Ben tauschten einen Blick.

„Stört es euch wirklich nicht, dass hier ein Mörder herumläuft?“

„Schatz bitte, versau uns nicht den Abend.“ Steve legte seinen Armen um seine Frau, doch sie entzog sich unwirsch seinen Händen.

„Letztes Wochenende, ist er nachts in ein Haus einge­stiegen und hat eine vierköpfige Familie, darunter auch zwei Kinder, im Schlaf erstochen. Und dann hat er die gesamte Weihnachtsdekoration zerstört und den Plastikschneemann vom Dach geholt!“

Steve kratzte sich im Nacken, der rot anlief. „Die Polizei wird diesen Verrückten schon stellen. Versuch nicht dran zu denken, das bringt doch nichts.“

„Entschuldige, dass mich das Thema aufwühlt!“ Rachels Stimme wurde lauter. „Aber da läuft ein Verrückter in unserer Stadt herum und bricht in geschmückte Häuser ein, um die Bewohner zu töten. Wieso...“

„Wir verfolgen auch die Nachrichten. Aber wir versuchen uns nicht die Stimmung verderben zu lassen.“

„Wenn du über Weihnachten mit mir und den Kindern zu meiner Mutter fahren würdest, dann würde es mir besser gehen.“

„Na da bleibe ich lieber hier und lasse mich umbringen.“ Steve leerte seinen Glühwein und stand auf. „Was hast du gerade gesagt?“

Von Ben und Alexandra kam ein unterdrücktes Kichern. Mary war jedoch nicht nach Kichern zumute. „Wie wäre es mit ein wenig Musik? Wir wollen doch den Weihnachtssinn nicht verlieren!“, rief sie, als die beiden zeternd in der Küche verschwanden.

 

Er sah das Haus bereits vom anderen Ende der Straße. Lichterketten schmückten das Dach, im Vorgarten saß ein ganzes, leuchtendes Weihnachtsdorf. Je näher er kam, desto mehr Treiben entdeckte er hinter den erleuchteten Fenstern. Eine kleine Party schien im Gange zu sein. Beim ersten Vorbeigehen sah er Menschen in der Küche und im geschmückten Wohnzimmer. Glühwein und Kekse waren auf den Tischen zu sehen.

Im nahen, verschneiten Gebüsch am Rande des Grundstücks zog er seinen Rucksack ab. Seine kalten Hände schwitzten, sein Herz raste, als er die Maske über sein Gesicht zog. In der Straße war kaum noch jemand unterwegs. Die braven Vorstadtväter waren alle von der Arbeit zuhause, die Hunde ausgeführt, das Abendessen stand auf dem Tisch. Dennoch sah er sich um, als er die Molotow-Cocktails zusammenbaute.

Wenn diese Menschen da drin nicht so wären, wie sie wären, wenn sie nicht auf die Weihnachtslüge hereingefallen wären, dann würde ihnen nichts passieren. Aber sie mussten ja mitmachen, bei dem Konsumrausch. Es ging ihnen doch auch nur darum Weihnachtskarten zu verschicken, in denen sie das letzte Jahr auf Hochglanz polierten. Sie posierten für Familienfotos, darauf bedacht eine perfekte Idylle zu kreieren, die sie wenigstens für einen Tag glauben konnten. Sie wollten nach den Feiertagen auf der Arbeit von ihren Festtagen angeben, alle so sehr blenden, wie die Lichterketten auf dem Dach. Aber vor allem wollten sie diesen albernen Nachbarschaftswettbewerb für das weihnachtlichste Haus gewinnen. Das gegenseitige Übertreffen gipfelte in dieser Straße.

Die Wut machte ihn ungeduldig. Doch er sollte noch warten.

„Das ist eine einzige Katastrophe! An Weihnachten sagt man solche Sachen doch nicht!“

„Mary, es tut uns leid. Bitte hör auf zu weinen.“ Steve und Rachel warfen sich einen verzweifelten Blick zu. Sie standen vor der Couch, auf der Mary sich schluchzend eingerollt hatte und sich Taschentücher vor ihr Gesicht drückte. „Wir wollten dir wirklich nicht den Abend verderben. Du hast alles wunderschön arrangiert. Hast du vorhin nicht etwas von Musik gesagt? Wir würden uns freuen, wenn...“

„Also wir gehen dann jetzt wohl mal.“ Ben und Alexandra standen bereits an der Haustür. Er half ihr in ihre Jacke und es war beiden deutlich anzusehen, dass sie flüchten wollten.

„Wartet, ihr habt eure Weihnachtsgeschenke noch nicht.“

Mary sprang auf und nahm zwei Päckchen von dem Geschenkestapel neben dem Kamin. Sie hatte noch Tränen in den Augen, als sie auf die beiden zuging, doch sie setzte ein breites Lächeln auf, was

ihre Miene grotesk wirken ließ. „Ich habe mich ein wenig durch eure Freundeskreise gefragt, denn ein Weihnachtsgeschenk sollte von Herzen kommen.“

„Durch unsere Freundeskreise? Wen kennst du denn von unseren Freunden?“ Ben sah fast schon ängstlich aus. Mary antwortete nicht. Sie winkte ab und zwinkerte was Ben nicht beruhigte.

 

Er konnte nicht mehr länger warten. Er konnte sehen, dass sie dabei waren zu gehen. Die Gäste standen an der Tür. Ihm brach der Schweiß aus, sein Handy blieb dunkel. Es war jetzt oder nie.

Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen, als er in den Garten lief. Mit seinem Feuerzeug zündete er den ersten Molotow-Cocktail an. Das Glas barst, die Gardine fing Feuer. Schreie hallten durch die kalte Luft, während er den zweiten anzündete und hinterherwarf. Einen weiteren ließ er auf das Holz der überdachten Veranda fallen, um den Flucht­weg abzuschneiden. Als die Haustür aufging und er in das entsetzte Ge­sicht eines Mannes starrte, schmiss er einen letzten durch das Küchenfenster. Der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer stand in Flammen, Qualm drang nach draußen, die Luft schmeckte giftig. Hustend kamen mehr und mehr Menschen aus der Tür und wichen vor den Flammen auf der Veranda zurück. Alles was sie durch die vernebelte Luft sehen konnten, war ein als Weihnachtsmann verkleideter Mann, der die Straße entlang davonrannte.

 

„Vielen Dank, wir gehen dann.“ Als Alexandra die Tür öffnete sah sie einen Schatten auf sich zu treten und ihr entfuhr ein Schrei.

„Fröhliche Weihnachten.“

„Oh Gott, Jack! Du hast mich zu Tode erschreckt!“ Sie griff sich an die Brust und ließ Marys Ehemann eintreten. „Wieso bist du denn so verschwitzt?“

Jack gab Mary einen Kuss. „Ich bin mit meinem Schlitten liegen geblieben und musste den Rest des Weges rennen, um euch noch zu erwischen.“

„Oh du lieber Weihnachtsmann.“ Mary und er begannen zu kichern. Steve schüttelte den Kopf, wobei sein Blick aus dem Fenster fiel.

„Um Himmels Willen! Es brennt in der Nachbarschaft! Seht doch! Das muss das Haus der Billinghams sein.“

Erschrocken murmelnd liefen ihre Gäste aus dem Haus und eilten schnurstracks in die Parallel­straße, wie einige Nachbarn in der Straße, die aus ihren Häusern traten.

Ohne Mary anzusehen riss Jack sich die Mütze vom Kopf und ging an ihr vorbei.

„Oh lieber Weihnachtsmann“, säuselte Mary. Er blieb im Flur stehen, ohne sich umzudrehen. „Das hast du sehr gut gemacht.“

„Es war das letzte Mal. Ich gehe jetzt duschen.“

„Tu das mein Psychopath.“ Seine Schritte stapften weiter, die Badtür knallte hinter ihm zu. Mary drehte sich zum Fenster und beobachtete die in den Nachthimmel aufsteigende Rauchsäule.

 

„Jetzt steht mir nichts mehr im Weg. Ich gewinne den Preis. Der Weihnachtsmann wird stolz auf mich sein.“

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