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Der Mörder im Raum

„Wieso willst du dir das anschauen? Du quälst dich doch nur.“ Als Mike seiner Schwester den Tee brachte, schaltete er den Ton am Fernseher stumm und versperrte ihr mit seinen breiten Muskelpaketen die Sicht auf den Bildschirm. Ohne Job hatte er viel Zeit für das Fitnessstudio.

„Er war der Vater meiner Kinder. Ich muss doch wissen, was mit ihm passiert ist.“

Jessica tupfte sich die Tränen ab.

„Ich kann dir sagen, was passiert ist, er war ein Arschloch und er hat seine gerechte Strafe bekommen. In diesen Sendungen finden sie sowieso nie den Täter. Ich sehe mal nach Mama und den Kindern.“ Mike verließ den Raum. Sie hörte ihn nebenan mit ihrer Mutter sprechen und das Geschrei ihrer Kleinen. Sie hatten noch nicht verstanden, dass er nie wiederkommen würde, dass er auf dem Heimweg von der Arbeit entführt und im Wald erschossen worden war. Jessica stellte den Ton am Fernseher wieder an. Sie kannte ihre Geschichte, sie musste sie nicht noch einmal von dem Moderator erzählt bekommen und doch saugte sie jedes seiner Worte auf, in der Hoffnung wieder zu fühlen, wie sie sich gefühlt hatte, als er ihr all das angetan hatte. Vielleicht würde das die Leere und die Angst vertreiben. Der Moderator begann damit, dass Vince O’Malley ein rebellischer Teenager gewesen war, der durch Schlägereien und kleinere Drogendelikte polizeilich in Erscheinung getreten war. Sein Leben schien sich mit der Heirat seiner High-School Liebe Jessica zu stabilisieren. Die beiden bekamen zwei Kinder und Vince fand Arbeit als Gärtner.

Beim Anblick ihres Hochzeitsbildes begann sie zu schluchzen. Die Musik im Hintergrund wurde dramatischer. Es habe Probleme in der Ehe gegeben, da Vince oft betrunken nach Hause gekommen war, das Geld beim Glücksspiel verloren und mit anderen Frauen seine Nächte verbracht hatte. Niemand außer ihr wusste, dass er das nicht so gemeint hatte, dass er sie trotz allem geliebt hatte. In den letzten Wochen war seinen Kollegen aufgefallen, dass er von dubiosen Kerlen in protzigen SUVs von der Arbeit abgeholt worden war und nach seltsamen Anrufen meist verängstigt ausgesehen hatte. Die Polizei hatte die Anrufe nicht nachverfolgen können, konnte allerdings seinen Todestag weitestgehend rekonstruieren.

Er hatte sich in der Nacht in Bars rumgetrieben und war bei einer anderen Frau gelandet, der er gesagt hatte, er müsse eine Weile untertauchen, weil er sich mit den falschen Leuten eingelassen hätte, um seine Schulden zu begleichen. Die Polizei ging von einer Gang aus. Nach der Arbeit habe er einen Anruf bekommen und Kollegen gesagt, er würde noch ein Bier trinken gehen, aber nicht wo oder mit wem. Überwachungskameras in der Nähe hatten ihn in einen Wagen einsteigen sehen, ohne viel von dem Fahrer aufzeichnen zu können.

„Mama, warum weinst du schon wieder?“ Erschrocken schaltete Jessica den Ton aus und hob ihre Tochter auf ihren Schoß. Mike folgte ihr ins Zimmer. „Sie ist entwischt, als ich die Tür aufgemacht habe, um mir ein Bier zu holen.“ Er ging in die Küche nebenan.

„Schau mal, da ist Onkel Mikeys Kappe“, krakelte Mia auf Jessicas Schoß. Mit ihren Augen folgte sie den Fingern ihrer Tochter. Sie zeigte auf den Fernseher. Dort wo die Kappe des Verdächtigen aus dem Auto vergrößert aus dem Video der Überwachungskamera zu sehen war. Das Logo eines Teams war darauf, wie auf einer Kappe ihres Bruders. Sie wollte Mike rufen, damit er sich das ansah, als ein weiterer Ausschnitt vergrößert wurde, die eine schlangenförmige Tätowierung am rechten Hals des Verdächtigen zeigte. Mike trat aus der Küche und drehte seinen Kopf nach links, während er den Lichtschalter ausmachte. Sein Tattoo sprang ihr ins Auge.

„Komm Maus, wir spielen drüben weiter.“

Mia kletterte von ihrem Schoß, um Hand in Hand mit ihrem Onkel aus dem Raum zu gehen. Jessica wartete, bis die Tür hinter ihnen zugefallen war, dann schaltete sie den Ton wieder an.

„Es ist davon auszugehen, dass der Mörder bewaffnet ist und sehr brutal vorgeht. Vince O’Malley wurde mit fünf Schüssen getötet. Das Motiv könnte in der Bandenkriminalität liegen, mit der O’Malley versucht hatte seine Schulden zu begleichen. Oder ein betrogener Freund einer seiner Affären. Bei Hinweisen …“

Ihr Herz raste und ihre Finger zitterten, als sie ihr Handy hervorzog. Die Verlobte ihres Bruders. Vince hatte sie angebaggert. Sie wollte den Notruf wählen, als sie ein metallisches Klicken direkt neben ihrem Kopf hörte.

 

„Das würde ich lassen, Schwesterherz.“

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