· 

Der Stalker

Er sieht dich morgens das Haus verlassen. Du kannst ihn nicht sehen, bemerkst nicht, wie er deine Frisur wahrnimmt, was du trägst und ob du ausgeschlafen aussiehst.

Es schmerzt ihn, dich zu sehen und dir nicht näher kommen zu dürfen. Am liebsten würde er dich in seine Arme schließen, dich nie wieder loslassen und nichts anderes als deinen Duft einatmen. Er möchte dich nicht aus den Augen verlieren, aus Angst, du löst dich in Luft auf, wenn er nicht mehr nach dir sieht. Und so nimmt er sich von dir, ohne dass du es merkst.

Während du in dein Auto einsteigst macht er Fotos von dir mit seinem Handy. Müsste er jemand erklären, was er mit diesen Bildern will, müsste er sagen, er sieht sie sich gerne an, träumt von den Dingen, die er mit dir machen möchte und wünschte, er könnte sich mit Haut und Haaren in das Bild zwängen, zu dir.

Heute sitzt er in einem anderen Mietwagen als in den letzten Tagen. Von der anderen Straßenseite beobachtet er wie du losfährst und keinen Blick in seine Richtung wirfst. Das tust du nie. Und noch reicht ihm das. Noch braucht er keine Reaktion von dir. Er erlebt all das in seiner Fantasie, wo du seine wildesten Vorstellungen erfüllst. Solange, bis es ihn nicht mehr kitzelt und er den nächsten Schritt unternehmen muss.

Bis vor Kurzem hat es ihm noch gereicht dich zu beobachten, sobald du das Haus verlassen hast. Aber er will wissen, wie es innen aussieht, wie du lebst. Den Einblick, den er bei eurem kurzen, ersten Date bekommen hat reicht ihm nicht mehr. Der Schlüssel gleitet widerstandlos ins Schloss und die Wohnungstür gibt nach. Er sieht dein Frühstücksgeschirr noch auf dem Tisch und weiß, dass du es eilig hattest.

Du hast dein Bett nicht gemacht, es ist noch warm und dein Schlafanzug, den er sich unter die Nase hält, riecht nach dir. Er öffnet deinen Schrank, sieht sich deine Kleider an. Im Bad riecht es nach deinem Haarshampoo. Dein Handtuch ist noch feucht. Er fühlt sich wohl bei dir, geht deine Bücher durch, sieht fern auf deiner Couch. Er kann nicht widerstehen und macht dein Bett.

Er hofft, du freust dich darüber, so sehr ist er in seine Fantasie abgedriftet, in der er mit dir hier wohnt. Wirst du denken, du hast das Bett gemacht?

Er kann nicht anders, stellt dein Geschirr in die Küche und kippt ein Fenster im Schlafzimmer. Vielleicht wirst du Angst kriegen, vielleicht wirst du dir einreden, du hättest all das vergessen. Ihm gefallen beide Vorstellungen, deine Verunsicherung ganz besonders. Heute verlässt er nochmal deine Wohnung. Aber bald wird ihm auch das nicht mehr reichen. Dann wird er dich erwarten, wenn du nichts ahnend nach Hause kommst.

Sieh dich um.

 

Hast du deine Wohnung heute Morgen wirklich so verlassen?

Kommentar schreiben

Kommentare: 0