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Das vertauschte Geschenk

Es war einmal ein Mann, dem zu Weihnachten ein folgenschwerer Irrtum unterlief.

5 Tage vor Heiligabend
"Wenn das der Weihnachtsmann sieht." Linus lehnte sich an den Türrahmen im Wohnzimmer, von wo er direkt auf den Weihnachtsbaum und die darunterliegenden Geschenke sehen konnte. Und auf seine Frau, die das in grünes Papier eingewickelte Geschenk an ihrem Ohr schüttelte.
"Ich bin nur neugierig, was du mir schenkst. Es rappelt!", grinste Jana begeistert. "Warte, das klingt wie... schenkst du mir etwa Schmuck?"
"Leg es wieder hin."
"Ist ja gut. Ich bin noch fünf Tage brav und hole jetzt die Kinder von der Schultheaterprobe ab. Fährst du einkaufen?"
Linus nickte, wie er das in ihren langweiligen, alltäglichen Gesprächen immer tat. Das Einkaufen gleich, umgeben von all den Verrückten, die Angst hatten über die Feiertage zu verhungern, würde ihm den letzten Nerv rauben. Er griff nach seiner Jacke, als die Haustür hinter Jana zufiel. Doch gerade als er in seine Jacke schlüpfen wollte, drangen ihre Worte zu ihm durch. Das Geschenk sollte nicht rappeln. Er hatte Theaterkarten für sie und keinen Schmuck. Den Schmuck hatte er für Stefanie gekauft! Aber wenn ihr Geschenk nach Schmuck klang... 
Linus eilte zum Baum und öffnete das Geschenk vorsichtig. Als Diamentohrringe zum Vorschein kamen rutschte ihm das Herz in die Hose. Jana trug keine Ohrringe! Und er konnte auf keinen Fall mit Stefanie ins Theater gehen, wo alle seine Kollegen und sein Chef seine Frau erwarten würden. Die Panik kroch ihm unter die Haut, der Schweiß strömte aus allen Poren. Es gab nur eine Sache, die er tun konnte, um sich selbst und Weihnachten zu retten.

4 Tage vor Heiligabend
Das Haus war dunkel und still. Er hatte beim Rauchen auf dem Balkon beobachtet, wie Stefanie und ihr Mann durch den Schnee zu ihrem Wagen gestapft und weggefahren waren. Ihr Sohn war nicht mitgefahren, vielleicht holten sie ihn gerade von einem Freund ab. Linus zog sich in seiner Garage um. Eine Plastikmaske mit Weihnachtsmanngesicht, ein schwarzer Mantel, Hand­schuhe und eine Mütze. Stefanie und ihr Mann waren vor fünf Minuten gefahren, Jana holte die Kinder gerade vom Training ab. Er hatte höchstens 20 Minuten, doch das musste reichen. Linus wusste von der kaputten Gartentür und davon, dass ihr Mann ständig vergaß, den Besenstiel in die Tür zu klemmen. Es war nicht schwer mit dem Schraubenzieher die kaputte Tür aufzustemmen, nachdem er sich in den frisch verschneiten Garten geschlichen hatte. Er musste nur daran denken, seine Fußabdrücke nachher wieder zu verwischen. In der Küche roch es nach Essen. Nach frisch gebackenen Plätzchen. Er entdeckte ein Blech mit Keksen zum Abkühlen auf dem Tisch. In der Hocke eilte er am Tisch vorbei ins Wohnzimmer. Auch in der Dunkelheit entdeckte er sofort die Umrisse des geschmückten Weihnachtsbaums neben dem Sofa. Linus fummelte seine Taschenlampe aus der Hosentasche und richtete den Lichtschein auf den Geschenkestapel unter dem Baum.
Er entdeckte große und kleine, bunt verpackte Päckchen, doch kein grünes, nicht sein Geschenk. Und wie sollte er auch? „Ich Idiot", murmelte er. Sie würde sein Geschenk natürlich nicht vor ihrem Mann und Sohn auspacken.
Er wollte gerade die Treppe nach oben erklimmen, als er ein Auto vorfahren und eine Tür auf- und zugehen hörte. Hektisch stürmte er zur Gartentür, zog sie von außen wieder an und stolperte über seine Schnürsenkel bäuchlings in den Schnee. Er hörte Stimmen im Haus, die Tür zufallen. Auf allen Vieren krabbelte er durch den Garten und verwischte seine Fußspuren. Kurz bevor er den Zaun erreichte, fiel Licht aus der Küche. Nur Augenblicke später ging die Tür auf.
„Mama, Papa! Was ist das denn?" Es war ihr Sohn, der in die Nacht hinaus krakelte. Linus drehte sich nicht um. Er stand auf, sprang über den Zaun und rannte durch die Düsternis. Kurz vor seinem Haus rutschte er aus und schlug mit den Knie auf. Aber er sprang sofort wieder auf und sprintete weiter, so weit, dass er von Stefanies Garten aus nicht mehr in Sichtweite war.

 

2 Tage vor Heiligabend
"Wenn wir nur fünf Minuten später gekommen wären, hätten wir einem Einbrecher gegenüber gestanden! Und ich habe Peter tausendmal gesagt, dass er die verdammte Tür reparieren soll!" Stefanie lag noch im Bett, während Linus wieder in sein Hemd schlüpfte.
„Reg dich nicht auf, Süße. Den Einbrecher habt ihr mit Sicherheit vergrault."
„Hoffentlich. Aber es ist ja mein letztes Weihnachten mit diesem faulen Versager." Sie pirschte sich an ihn heran, um ihn zu küssen. Als er nicht reagierte, während er in seine Sachen schlüpfte, spürte er ihren Blick härter werden. "Oder?"
"Ich.. Was hast du denn vor?"
„Ich werde ihm mitteilen, dass ich mich scheiden lassen will. Das hatte ich dir doch gesagt."
„Okay."
"Wie okay? Wir hatten ausge­macht, dass du dich auch von Jana trennst."
„Das werde ich auch."
„Ach ja?"
„Ja. Es ist nur... An Weihnachten? Das ist doch irgendwie..."
„Du bist ein Feigling." Sie wickelte sich in die Decke ein und stand auf. "Ich geh duschen. Beeile dich lieber, sonst verpasst du die Weihnachtsaufführung deiner Kinder. Und wenn du es für weihnachtlich angebracht hältst, dann nimm dein blödes Geschenk wieder mit. Es liegt in meiner Sockenschublade."
"Baby, komm schon", rief er, machte jedoch keine Anstalten ihr hinterher zu gehen. Er wartete, bis sie die Badtür hinter sich geschlossen hatte, ehe er zur Schublade eilte. Er fand zwei in grün verpackte Schachteln in ähnlicher Größe. Verzweifelt hielt er beide an sein Ohr und schüttelte sie. In einem klapperte es zaghaft- wie nach Papier. Linus nahm es an sich und stellte die Ohrringe stattdessen ab. Jetzt konnte Weihnachten kommen, über alles andere würde er sich danach Gedanken machen.

Heiligabend
Linus lehnte sich mit einem Glas Wein auf dem Sofa zurück. Im Kamin knisterte das Feuer, das Geschenkpapier flog herum, während seine Kinder begeistert krischen und ihre Spiel­sachen auspackten.
"Vorsicht Ella, mach es nicht gleich kaputt." Doch seine Tochter sah kaum zu ihm auf. In der Küche klapperte es. Jana war mit den letzten Vorbereitungen zum Abendessen beschäftigt. Linus zog sein Smartphone aus seiner Hosentasche. Stefanie hatte ihm noch nicht auf seine reuevolle Entschuldigungsnachricht geantwortet. Doch das würde sie sicher, sobald sie die Ohrringe ausgepackt hatte.
"Wollt ihr schon essen?", fragte Jana aus der Küche.
„Nein, erst spielen!", rief Dennis und rüttelte mit seiner Play Mobil Packung.
"Ja Schatz, komm her, pack erstmal dein Geschenk aus." Jana trat grinsend auf das Schlachtfeld unter dem Baum zu.
„Welches ist es denn?"
„Das grüne." Gerade als Jana sich bückte, rappelte sein Handy. Es war eine Nachricht von Stefanie. Sie bedankte sich für die Ohrringe. Die Ohrringe und die Theaterkarten. Linus musste sich verlesen haben. Er hob das Display näher an seine Augen. Doch da stand es. Und noch mehr.
"Ich liebe dich. Ich regele heute Abend alles mit Peter. Ich habe ein besonderes Geschenk für ihn." Linus realisierte es in dem Augenblick, in dem ihm Janas Schweigen auffiel. Er hatte das falsche Geschenk genommen. Er hatte es gegen etwas ausgetauscht, von dem er keine Ahnung hatte, was es war. Er sah auf und starrte in Janas verwirrtes Gesicht. In der Hand hielt sie einen Zettel mit der Aufschrift: Ich will die Scheidung. Daneben klebte die Visitenkarte einer Anwaltskanzlei.
"Was soll das?" Er öffnete seinen Mund. Aber kein Ton drang heraus.

Und wenn ihm nichts Geniales eingefallen ist, schweigt er noch heute.

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