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Kriminelle Entscheidungen - Wahrheit oder Lüge?

Von all den Entscheidungen, die sie zur Auswahl hatte, traf sie die schlechteste.

 

24. Juni

 

Das Stadtfest war in vollem Gange. Vom Grill duftete es und vor den Ständen, die Alkohol verkauften hatten sich große, ausgelassene Trauben gebildet. Die älteren Besucher hatten die wenigen Sitzgelegenheiten ergattert oder sammelten ihre Kinder vor dem Karussell ein. Innerhalb der nächsten zwei Stunden würden sie den Platz verlassen haben und den Jüngeren aus dem orts­ansässigen Sportverein das Feld überlassen. Es sollte der letzte Abend sein, an dem die Volleyball- und Handballabteilung zusammen feierten.

Im Bierwagen servierte Julia, die Trainerin der U18 - Volleyballmädchen und weigerte sich, ihren Spielerinnen die Gläser zu füllen. Sie hatte getrunken, aber nicht genug, um die Gedanken in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen. Sie war noch immer hin- und hergerissenen zwischen die Feier zu verlassen oder zu der Gruppe herüberzugehen, die einige Meter vom Bierwagen entfernt stand. Zwei der Frauen dort kannte Julia nur vom Sehen. Sie waren Spielerinnen der Handballdamenmannschaft. Auch die dritte Frau im Kreis Nina Crohn war Spielerin der Damenmannschaft. Sie rauchte und gab der Frau neben ihr Feuer. Ihrer Freundin Anna Schmidt. Als Anna den ersten Zug nahm, trafen ihn Augen auf Julias. Für einen Moment schien der Platz leergefegt. Dann senkte sie ihren Blick in ihr Glas Rum-Cola.

Annas Mannschaft die U-18 der Handballjungen war im Getümmel verteilt. Nur einer, Mark lief auf die Gruppe mit seiner Trainerin zu. Julia wusste, wer er war. Ninas Neffe, ein sehr talentierter Junge, der seinem Team die Qualifizierung zur deutschen U18 – Meisterschaft in einigen Wochen gesichert hatte. Und das wusste er auch.

Wann immer Julia ihn in der Halle gesehen hatte, hatte er Anweisungen von Anna missachtet. Er konnte sich eben mehr erlauben, da sein Vater Abteilungsleiter der Handballer war – und im Vereinsvorstand.

„Komm schon, nur ein Bier!“ Ihre Spielerin Lilly klang, als hätte sie bereits mehr als ein Bier getrunken, als sie sich an der Bierwagentheke festhielt. „Meine Schicht ist gleich vorbei. Da musst du dein Glück woanders probieren. Übrigens heute Nacht werden es keine 30 Grad. Du solltest den Rest deiner Klamotten suchen.“ Giggelnd zog Lilly ihren kurzen Rock ein Stück tiefer. Etwas, das bei ihren langen Beinen keinen Effekt hatte. Ehe sie etwas erwidern konnte, tauchte eine andere Spielerin an ihrer Seite auf und zeigte ihr unter der Theke etwas in ihrer Hand. Vorfreudig lachend verschwanden die beiden im Getümmel. Julia sah ihnen nach, unfähig sich das Gefühl in ihrer Magengrube zu erklären. Sie kannte die meisten ihrer Mädchen seit sie sechs Jahre alt gewesen waren und hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass sie nun anfingen auf Partys zu gehen und Alkohol zu trinken. Aber sie hatte sich an so einiges noch nicht gewöhnt.

Als ihre Schicht im Bierwagen vorbei war, kämpfte Julia sich durch das Getümmel zum Gasthaus, auf dessen Vorplatz die Feier stattfand. Die Toiletten im oberen Stockwerk durften von den Partygästen benutzt werden. Trotzdem war die Damentoilette erstaunlich verwaist. Doch als Julia aus der Kabine kam, stand da bereits eine Frau am Waschbecken und wusch sich die Hände. Es war Anna. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Ein kaum merkliches Zucken schien Annas Körper zu befallen. Sie senkte ihre Augen, als Julia neben sie trat, um den Hahn zu öffnen.

„Hör mal, wir sollten …“, begann sie, doch Annas zaghaftes Kopfschütteln, sowie die Klospülung, die in einer der hinteren Kabinen betätigt wurde, brachten Julia zum Schweigen. Sie sah die Irritation in ihrer Miene im Spiegel, als Nina aus der Kabine trat, ihre Augen zwischen Anna und Julia hin und her huschend.

„Ich geh schon mal raus“, murmelte Anna und verließ den Raum. Julia trat an das Dampfgebläse unter dem Fenster, drehte der anderen Frau den Rücken zu, bis auch sie ging. Beschäftigt mit ihren eigenen Gedanken fiel ihr Blick aus dem Fenster, auf einige ihrer Spielerinnen, darunter Lilly, die mit einer Hand voll Handballspieler, darunter Mark Crohn, in Richtung Park gingen. Sie alle lachten und schienen mehr Spaß zu haben als Julia.

Noch.

 

28. Juni

 

Es war am Mittwochabend im Handballtraining der U18, als Anna etwas auffiel. Ihr bester Spieler, Ninas Neffe Mark, fehlte unentschuldigt. Das war nicht zum ersten Mal der Fall. Sie wusste, dass sie die Jungs gut im Griff hatte. Sie respek­tierten sie und ihr Können, aber Mark glaubte, er stand über den Teamregeln. Nicht nur wegen seines Talents, sondern vor allem wegen seines Vaters. Ninas Bruder Steffen war bei jedem Spiel der Jungs und wenn sie Mark aus diszi­plinarischen Gründen nicht spielen ließ oder ihm wenige Spielanteile gab, brüllte er von der Tribüne. Und wenn sie dennoch bei ihrer Meinung blieb, dann führte er den Streit zuhause fort und drohte, sie als Trainerin zu ersetzen. Er wollte, dass sein Sohn diesen Titel gewann, dass er Chancen auf eine Profikarriere hatte. Und wenn er glaubte, sie stand diesem Ziel im Weg, würde er tun, was er für richtig hielt. Es war ein Hexenkessel, in dem sie keine Chance hatte. Und keine Unterstützung.

Nina wollte keinen Streit und Luise Steffens Frau, wollte nur das Beste für ihren Sohn. Und das war ein Sieg bei der Deutschen Meisterschaft, nachdem ihm dann alle Türen offenstehen würden. Also ertappte Anna sich immer wieder dabei, wie sie Mark Sonderrechte einräumte, um den Ärger loszuwerden. Und so schüttelte sie nur innerlich den Kopf über Marks Ab­wesenheit, nur einige Wochen vor der Meisterschaft.

Das Fehlen seines besten und bedeutend weniger talentierten Freundes Benni war es, was ihr auffiel. Als sie das Team fragte, ob jemand etwas gehört hatte, erntete sie Schulterzucken und gesenkte Blicke. Den Blick durch die gläserne Hallentür, quer durchs Foyer in die andere Halle vermeidend, dort wo die Volleyballerinnen trainierten, zog sie das Training durch und schnappte in einer der Trinkpausen einige Worte der Jungs auf.

„Haben die das echt durchgezogen?“

„Glaub, viel gab es da nicht mehr durchziehen.“

„Kai, holst du bitte von drüben mal Leibchen?“, fragte Anna in das Gelächter. Kai, einer der dünnsten und jüngsten im Team, von dem Steffen wollte, dass er nicht mit zur Meisterschaft kam, schien vor ihren Augen zu erblassen. „Ich musste schon letzte Woche.“

„Dann kennst du ja schon den Weg.“ Sie wandte sich ab und konnte so die Stimmen nicht zuordnen, die aus allen Richtungen kamen.

„Was denn, hast du jetzt Angst vor den Mädels drüben?“

„Am Samstag wolltest du doch auch zu denen.“

„Schämst du dich für ihn vor ihr?“

„Habe ich etwas verpasst?“, fragte Anna in das Grölen. Kai schüttelte den Kopf, die anderen grinsten.

„Mann, Jungs ich will spielen. Ich geh schon.“ Der Tormann eilte quer durch die Halle, während seine Teamkollegen giggelten. Anna konnte sich ihr ungutes Gefühl nicht erklären. Sie war nur froh, dass sie niemandem erklären musste, warum sie so ungern die andere Halle betrat.

 

Nina stoppte ihre Uhr als sie das Haus ihres Bruders erreichte und verlangsamte ihre Schritte. Sie hatte seit ihrer letzten Joggingrunde viel zu viel Zeit verstreichen lassen. Zeit, die jetzt schwer auf ihren Hüften und an ihren Oberschenkeln saß. Die neue Saison begann bald und sie war mittlerweile in einem Alter, in dem es nicht mehr so leicht war in Form zu kommen. Auch wenn sie nie geglaubt hatte, sich mit Ende dreißig so zu fühlen. Sie hatte ihre Schwägerin gefragt, ob sie mitlaufen wollte, die flache, kurze Runde auf dem Feld. Doch Luise war mit einer Freundin etwas trinken, ihr Bruder arbeitete länger. So war Nina allein gelaufen und hatte ver­sucht die Erinnerungen an die Volleyballtrainerin auf dem Fest zu vergessen. Sie hatte die Blicke von Anna zum Bierwagen bemerkt. Die Frau war hübsch. Nina wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Die Hitze der letzten Tage hatte sich gelegt, doch es war schwül an diesem Abend, an dem die Sonne irgendwo hinter den Wolken unterging. Im Haus ihres Bruders brannte nur in Marks Zimmer Licht. Der Garten ihrer Mutter war verwaist, sie war mit ihrem Vater essen gegangen und in ihrer und Annas Wohnung über der ihrer Mutter, brannte nur im Wohnzimmer Licht, dort wo sie es vorhin angelassen hatte. Sie überlegte gerade, den Grill anzuwerfen und Anna mit einem Steak zu überraschen, wenn sie vom Training kam, als sie Mark bei den Mülltonnen entdeckte.

„Hast du kein Training?“ Der siebzehnjährige schrak zu­sammen. Er machte einen Satz nach hinten und drückte einen Müllsack hinter seinen Rücken. „Hey, ja ich … hab morgen noch eine Klausur und muss noch lernen. Für die letzte Klausur dieses Schuljahr.“

„So so.“ Nina wusste, dass er log, sah es in seinen Augen. „Ich bin nicht deine Trainerin. Und ich werde nicht petzen.“

„Ja schon klar.“ Er versuchte zu grinsen, bewegte sich aber nicht, hielt den Müll weiter hinter seinem Rücken und sah sie nicht an. „Was hast du denn? Und was sind das für Spuren in deinem Nacken?“ Nina streckte ihre Hand aus und berührte die roten Schlieren dort. Als Nina ihn wieder ansah, hatte er Tränen in den Augen.  

„Das war Benni im Training. Wenn ich dir was verrate … Kannst du es für dich behalten?“ Nina nickte zögerlich. Sie ahnte nicht, auf was sie sich einließ.

 

Julia wusste, dass Anna ihr Training überpünktlich beendete und den anderen Hallenausgang nahm. Sie vermied jede Möglichkeit auf Julia zu treffen, mit ihr zu reden. Also versuchte Julia es gar nicht erst. Nachdem sie die Mädels, die heute nur dezimiert erschienen waren, wie üblich im Hochsommer, ein bisschen Fußball hatte spielen lassen, hatte sie die Halle aufgeräumt. Sie war gerade dabei, die Halle abzuschließen, als sich das Klingeln ihres Handys und das Klappern ihres Schlüssels legte. Es war Lillys Mutter, aber sie rief nicht an, um Lillys Fehlen heute zu erklären.

„Kannst du bitte zu uns kommen? Die Polizei braucht deine Aussage.“

Die Straftat, die sie in den Mund genommen hatte, klang so unwirklich, dass Julia wie in einer Art Trance zum Haus ihrer Spielerin fuhr. Ein Streifenwagen stand vor der Tür, Lillys Mutter Doreen war eine gefährliche Mischung aus Wut und Hysterie. Alles was Julia in der kühler werdenden Abendluft verstand, war, dass Lilly im ersten Stock weinend in ihrem Zimmer saß und ihre Aussage nicht vervollständigen wollte. Julia wusste nicht, ob sie da hochwollte oder sich übergeben musste, doch sie schien keine Wahl zu haben. Doreen bugsierte sie beinahe die Treppe hoch und schien auch vor Gewalt nicht zurückzuschrecken. Julia betrat das dunkle Zimmer und schloss die Tür hinter sich, dämpfte Doreens Stimme und die Schritte der Polizisten von unten. Lilly saß auf ihrem Bett im Halbdunkel, in einem Trainingsanzug vom Verein und weinte stumm.

„Was ist passiert?“

„Ich will es nicht mehr sagen.“ Julia fühlte jeden Schritt dumpf in ihr widerhallen, auf dem Weg zum Bett. Die Matratze gab ihrem Gewicht nach. „Deine Mutter sagt, deine Erinnerung ist verschwommen, wegen dem Alkohol und Marihuana …“

„Darauf hat die Polizei auch rumgehackt, aber ich weiß was passiert ist.“ Als sie mit ihrem Ärmel über ihre Nase wischte, sah Julia die blauen Verfärbungen an ihrem Handge­lenk. Sie meinte sie auch an ihrem Hals zu erspähen.

„Ich habe euch am Samstagabend das Gelände verlassen sehen. Euch und einige von den Handballern.“

Lilly weinte und schniefte, als sie zu erzählen begann. Sie erinnerte sich daran, wie sie eine Weile auf dem Feld getrunken und geraucht hatten und schließlich, als es kälter geworden war, zu Mark nach Hause gegangen waren. Seine Eltern und die ganze Straße hatten bereits geschlafen und sie waren in den großen Schuppen im hintersten Teil des Gartens gegangen, dort wo ihre Erinnerungen allmählich nachließen. Julia versuchte nichts zu denken bei der Erwähnung von Marks Namen, sie lauschte Lillys bruchstückhaften Erinnerungen daran, dass die Mädels plötzlich weg gewesen waren und die Lichter aus. Aber es waren Jungs dagewesen, mehrere. Sie erinnerte sich an Stimmen, Hände die sie festgehalten und berührt hatten.

„Da war jemand. Die Tür ist aufgegangen und dann hab ich zugeschlagen und bin einfach weggerannt, raus ins Feld.“

„Hast du gesehen wer das war?“

Lilly schüttelte den Kopf. „Es war zu dunkel.“

„Was ist mit deinen Sachen? Da könnten Spuren …“

„Ich habe sie verbrannt zuhause. Ich wollte nicht das meine Mutter … Aber sie hat einen Knopf gefunden und gefragt und dann musste ich es ihr einfach sagen.“

„Natürlich musstest du. Du hättest …“ Julia zwang sich zu schweigen.

Doch Lilly hatte verstanden. „Das hat die Polizei auch schon gesagt, dass es jetzt keine Beweise mehr gibt. Weißt du, was die mir für Fragen gestellt haben? Die … Das klingt als wäre alles meine Schuld gewesen!“

„Nein, das war es natürlich nicht!“ Julia legte ihren Arm um das Mädchen und sie versuchte nicht an all das zu denken, was die Leute über Lilly denken, wie sie ihr Verhalten beurteilen würden.

„Du glaubst mir doch, oder?“

„Natürlich tue ich das.“ Der Satz kam Julia über die Lippen, ohne dass sie darüber nachdenken musste. Es war keine Frage, die sie sich stellte.

„Und damit die anderen auch erfahren, was passiert ist, musst du jetzt da runter gehen und deine Aussage vervollständigen.“ Sie sagte es trotz ihres unguten Bauchgefühls.

Diese Sache würde hässlich werden.

 

29. Juni

 

Die Kanäle, über die sich die Nachricht in der kleinen Stadt verbreitete, und vor allem, die Art und Weise wie es rumerzählt wurde, waren nicht bekannt. Doch es begann erst, als die Polizei nach Lillys Aussage auf dem Anwesen der Crohns auftauchte.

Sie untersuchten die Hütte im Garten, fragten Mark aus, wollten wissen, wo er gewesen war und mit wem. Als sie wieder verschwanden, um seine Aussage zu überprüfen und die Ergebnisse von Lillys Untersuchungen abzuwarten, setzten sich seine Eltern mit ihm und Nina zusammen. Anna hatte gerade das Abendessen fertig, als Nina anschließend hoch in die Wohnung kam.

„Haben wir Wein oder Bier da?“, seufzte sie, als sie auf die Couch fiel.

„Was war das denn eben? Mark soll ein Mädchen vergewalt­igt haben?“, fragte Anna, als sie ihr ein Bier reichte.

„Quatsch!“ Nina verschluckte sich fast an ihrem ersten Schluck Bier. „Er war mit Benni in seinem Zimmer und hat Playstation gespielt, während das Mädchen noch im Schuppen war. Diese Schlampe be­hauptet wohl, dass das hier im Schuppen passiert ist. Aber das hat nichts mit Mark zu tun.“ Sie hustete den Rest Bier aus.

„Hast du gerade wirklich Schlampe gesagt?“

„So habe ich das doch nicht gemeint. Ich meine nur … Du hast doch auf der Feier gesehen, wie die angezogen waren.“ Anna wollte nicht an die Feier denken, als sie zurück zum Herd ging. „Deswegen muss sie ja noch lange nicht verge­waltigt werden.“

„Jetzt dreh mir doch nicht das Wort im Mund rum. Natürlich nicht. Aber sie ist ein junges Mädchen, vielleicht in einen der Jungs verknallt und war be­trunken und bekifft. Steffen sagt, das Mädchen hat eine strenge Mutter. Viell­eicht ist ja etwas passiert und ihre Mutter hat es rausbekommen und ist sauer und sie erfindet das jetzt deshalb.“

Anna konnte nicht genau in Worte fassen, was sie störte, doch sie spürte es ihre Wirbelsäule hinaufkriechen, während sie die Nudeln abgoss und die Dampfschwaden ihre Wangen erhitzten.

„Glaubst du wirklich sie erfindet sowas?“

„Glaubst du wirklich deine Spieler wären zu sowas fähig? Mark, mein Neffe wäre dazu fähig?“

Anna hielt inne, beim Schütteln des Siebs. Sie hatte keine Sekunde darüber nachgedacht. „Ich weiß nicht, zu was sie fähig sind, wenn sie trinken und … Spielt das eine Rolle?“

„Du kennst Mark seit er ein Kind ist. Du traust ihn sowas doch nicht ernsthaft zu!“ Erst als sie Ninas Blick vom Sofa aus entdeckte, wurde ihr klar, in welche Richtung das Gespräch driftete.

„Ich wollte doch nur …“

„Mark würde das niemals tun! Steffen hat ihn gut erzogen und er …“

Anna blendete ihre Stimme aus, als sie die Nudeln auf die Teller verteilte. Sie kannte die Heiligsprechung Marks. Er war ein guter Schüler, ein wahn­sinnig begabter Sportler, überall beliebt und hilfsbereit. Egal wie oft Anna auch versucht hatte ihr weiszumachen, das Mark regelmäßig die Schule schwänzte, im Training zu anderen Spielern gemein war und mit Benni machte was er wollte, sie wollte es nicht hören. Keiner aus der Familie wollte es.

„Jaja, ich weiß. Du glaubst ihm.“

„Natürlich tue ich das!“ Nina half ihr den Tisch zu decken. „Er hat es mir gesagt. Ich weiß es. Wir haben das geklärt.“

Anna beäugte sie, als sie neben ihr Platz nahm. Doch ehe sie nachfragen konnte, sprach Nina weiter. „Aber mein Bruder wird das natürlich nicht so stehen lassen. Er will die ganze Volleyballabteilung zur Rechenschaft ziehen.“

Nina schüttelte mit dem Kopf, als fände selbst sie das über­trieben. Annas Appetit war schlagartig vergangen. Das Grummeln in ihrem Magen schien eine Vorahnung davon zu sein, was da kommen sollte. Die Volleyballabteilung.

Julia.

 

3. Juli

 

Es war Steffen, der vom Vereinsvorstand Konsequenzen verlangte und den Abteilungsleiter der Volleyballabteilung zur Rede stellte. Einen Mann, der dafür plädierte, die polizeilichen Ermittlungen abzuwarten und sich rauszuhalten. Weder der Vereinsvorstand noch er, hatten etwas dagegen einzuwenden, dass die komplette U18 der Handballer, sowie die Volleyballmädels von der Polizei befragt wurden.

So sehr wie Steffen tobte, tobte auch Doreen, deren Tochter nicht mehr ins Training wollte, ihre semiprofessionelle Karriere bedrohte. Die Schreierei der vier fand vor der Halle statt und obwohl Julia einige Meter ent­fernt stehenblieb, hörte sie jedes Wort mit an.

„Die Polizei ist aufgrund von Behauptungen in mein Grundstück eingedrungen, hat meinen Sohn behandelt wie einen Kriminellen! Wo soll das denn hinführen?“

„Nach allem was Ihr Sohn meiner Tochter angetan hat, hat er noch Schlimmeres verdient!“

„Sie lügen, dass sich die Balken biegen. Mein Sohn hat überhaupt nichts getan! Sie wissen nicht, mit wem sie sich hier anlegen!“ Steffen fuchtelte mit seinem Zeigefinger vor ihrer Nase herum und stapfte schnaubend von dannen, direkt auf sie zu. Seine Schritte verzögerten sich, als er sie erkannte, als überlege er, was er tun sollte. Er blieb nicht stehen, aber er hatte ihr etwas zu sagen.

„Krieg deine Spielerinnen in den Griff! Ich lasse nicht zu, dass irgendein Mädchen den Ruf meines Sohnes in den Schmutz zieht! Schon gar nicht wenige Wochen vor der Meisterschaft!“

Julia sagte nichts. Sie wusste von ihm, was Anna ihr erzählt hatte. Sie hatte ein Bild von diesem Mann im Kopf, dass es unnötig machte, mit ihm zu reden. Er hatte kein Interesse die Wahrheit herauszufinden. Sie glaubte die Wahrheit schon zu kennen, sie stellte Lillys Version nicht infrage. Doch sie kannte sie. Die Polizei tat das nicht. Und wenn sie keine Beweise fanden oder die Person, die die Tat gestört hatte, dann würde Aussage gegen Aussage stehen. Und das reichte nicht für Lilly.

In der Halle fand sie ihr Team bis auf Lilly geschlossen vor, alle waren empört, alle wütend. Sie hatten bereits mit der Polizei geredet, viel hatten sie jedoch nicht gesehen. Nur drei waren mit Lilly und den Jungs in der Gartenhütte gewesen, doch vor allem Mark und Benni waren ihnen zu aufdringlich gewesen. Die letzte war irgendwann mit Kai aufs Feld gegangen, zum Rauchen. Er hatte versucht sie zu küssen, woraufhin sie gefahren war, ohne sich noch einmal nach Lilly umzudrehen. Julia begann das Training mit der Versicher­ung, dass sich alles aufklären würde, wusste jedoch nicht, ob sie sich selbst glaubte. Für jetzt hatte sie wenigstens einen Namen.

 

Anna platzte in die Kabine der Jungs, als sie laute Rufe hörte, andere als die, die sie von ihren Spielern kannte. Es klang, als würde einer der Jungs fluchen. Sie waren heute alle im Training gewesen, hatten hart und gut trainiert. Sogar Mark, der allerdings gemeinsam mit Benni wieder demonstriert hatte, wen er für zu schwach für das Team hielt. Und als Anna die Kabinentür öffnete, sah sie, wie sie genau da nahtlos weitermachten. Die Dusche lief und Mark und Benni warfen mit beiden Händen den Inhalt von Kais Sporttasche in das Wasser.

„Jetzt hört doch auf! Lasst den Scheiß!“ Kais T-Shirt war bereits nass vom Wasser, als er seine Jeans zu fangen versuchte und auch sein Handy auffing, das Benni in hohem Bogen warf.

„Du hast uns was versprochen!“

„Aber ich sage doch gar nichts! Ich habe doch nur …“

„Du hast ein Bild deiner Mama im Portemonnaie?“ Lachend zeigte Mark Benni das Bild.

„Was ist denn hier los?“ Ihre Stimme hallte so laut in der Kabine wider, dass Anna selbst erschrak. Benni und Mark gefroren für einen Moment auf der Stelle, ein Moment der Kai reichte, um ihnen seine restlichen Sachen aus der Hand zu nehmen und sich mit seiner Tasche in den hintersten Teil der Kabine zurückzuziehen.

„Nichts“, sagte Benni schulterzuckend.

„Nichts?“

„Wir haben nur Spaß gemacht, Tantchen.“

„Raus.“ Anna öffnete die Kabinentür und wartete bis die beiden rausgetrottet waren, ehe sie die Tür hinten ihnen zuknallte. Sie würde die zwei im nächsten Training nichts anderes als laufen lassen. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Anna hatte längst auf dem Heimweg sein wollen. Aber sie konnte Kai so nicht allein lassen. Er wischte sich über die Wangen, während er seine Sachen auswrang und in die Tasche warf. Sie bückte sich, als sie im Mülleimer seine Hallenschuhe entdeckte. Sie kippte sie aus und reichte sie Kai.

„Was war hier los?“, fragte Anna, wohlwissend dass er nichts sagen würde. Kai schüttelte den Kopf. „Nur weil Mark mein … Neffe ist, heißt es nicht, dass ich sowas gutheiße. Er wird sich nächste Woche die Lunge rauslaufen.“

„Okay.“ Kai schulterte seine Tasche und wollte sich an ihr vorbeidrängen.

„Was hast du den beiden versprochen?“

„Nichts Wichtiges. Bis nächste Woche Coach.“ Er verließ die Kabine, ohne sie noch einmal anzusehen. Anna wusste, dass es um alles gehen könnte, sie waren Schuljungen. Und doch war sie nachdenklich, als sie die Kabine verließ.

Anna brauchte länger als sonst um die Halle aufzuräumen und ihre Sachen zusammenzupacken. Sie hörte die Hallentür zufallen und sah erst auf, als sie angesprochen wurde.

„Sind deine Jungs schon weg?“ Es war Julia. Anna blinzelte, einige Atemzüge verstrichen.

„Ja. Und ich gehe jetzt auch.“ Sie wollte nicht mit Julia reden, so ein Gespräch würde die Dinge nur verkomplizieren. Aber nach nur zwei Schritten, ertönte Julias Stimme wieder in ihrem Rücken.
„War Kai heute da?“

Anna drehte sich erstaunt um. „Woher kennst du die Nam- … Ja, war er. Wieso?“

„Ich glaube, er hat etwas gesehen. In der Nacht … Lilly.“ Sie starrten sich an.

„Dann wird er das der Polizei sagen, oder?“

„Ja. Hoffentlich. Ich dachte, ich frag ihn, aber …“ Julia zuckte hilflos mit den Schultern.

„Es tut mir leid, was da passiert ist.“

Julia nickte. „Dann lass ich dich mal fahren.“ Sie ging an ihr vorbei, ließ Anna mit ihren Gedanken allein. Gedanken, die das was sie eben beobachtet hatte, in neuem Licht betrachteten.

 

Es waren Entscheidungen, die in Annas Kopf herumschwirrten. Entscheidungen, die sie ge­troffen hatte. Sie hatte entschieden, sich nicht auf die Geschichte mit Julia einzu­lassen. Sie hatte entschieden, dass sie den Kuss vergessen, sich nicht mit der Bedeutung beschäftigen zu wollen. Nur sie konnte nicht ignorieren, dass sie mit Julia hatte reden wollen, wissen wollen, was sie dachte, über ihre Spielerin, über die Geschichte. Was sie glaubte, dass Kai gesehen hatte.

Als Anna ihren Wagen nach dem Training vor dem Haus parkte, konnte sie geradewegs in Steffens Küchenfenster sehen. Mark, Luise, der Vereinsvorsitzende und die Väter einiger anderer Spieler saßen dort am großen Küchentisch. Nina entdecke sie nicht. Die Fragen wucherten in ihr, während sie die Tür aufschloss. Sie ahnte, was Nina ihr vorwerfen würde, dieses Mal jedoch, wollte sie die Entscheidung treffen, sich den Dingen zu stellen.

Anna fand ihre Freundin im Arbeitszimmer am PC.  „Kannst du mir mal erklären, warum dein Bruder so eine Hetze gegen das Mädchen macht und die Polizei nicht ermitteln lassen will?“ Nina sah nicht auf.

„Hetze? Das ist doch Schwachsinn. Er verteidigt nur seinen Sohn.“

„Und wieso hat er das Gefühl, er muss das tun?“

„Na weil es sein Sohn ist.“

„Du weißt genau was ich meine.“

Nina ließ die Maus los und die Lehne ächzte, als sie sich zurücklehnte. „Ich weiß, dass du mit Mark im Training nicht immer klar kommst und ich habe dir schon mal gesagt …“

„Vor ein paar Tagen hat es geklungen, als wüsstest du etwas. Ist das so?“

Nina seufzte. „Ich habe versprochen nichts zu sagen. Es soll in der Familie bleiben.“ Vieles an diesen Worten traf Anna genau dort, wo so vieles saß, dass sie bereute, nie gesagt zu haben.

„So war das doch nicht gemeint. Hör mal, Mark hat sich mir anvertraut und fand es schon gar nicht gut, dass ich ihn gezwungen habe, es vor seinen Eltern zu erzählen.“ Anna hörte es in ihrer Stimme, sah es in ihrem Gesicht. Die Freude darüber, dass Mark zu ihr gekommen war. Sie sah es als Beweis, dass er sie mochte, etwas das ihr immer wichtiger geworden war, seit er älter geworden war. Als Kind hatte er seine Tante verehrt und Anna wusste, dass sie Angst vor seiner Reaktion ge­habt hatte, vor dem was passieren würde, wenn er verstand, was sie war. Was sie und Anna waren. Nina hatte ihn mit Geschenken überhäuft und sich stets auf seine Seite ge­schlagen, gegen seine Eltern. Es gab einen Grund dafür, dass Mark war wie er war.

„Ist das jetzt dein Ernst? Es geht hier doch nicht um Beliebtheitspunkte!“

„Das weiß ich und das …“ Nina brach ab.

„Also sonst verlangst du immer von mir, dass ich mich mehr für deine Familie interessiere und jetzt geht mich das alles nichts mehr an?“

Nina seufzte wieder. „Es war Benni, Marks bester Freund.“ Anna griff nach dem Türrahmen.

„Was?“

„Sie haben Gras geraucht, Mark ist in sein Zimmer gegangen und eingeschlafen und als er aufgewacht ist, hat Benni ihm erzählt, dass es einvernehmlich war. Ganz sicher. Ich habe ihn dabei überrascht, als er die Hose wegschmeißen wollte, die Benni bei ihm vergessen hatte. Er meinte, er hat ein komisches Gefühl. Ich habe ihn daran gehindert.“ Nina sah sie nicht an, ihr Blick war auf den Computer gerichtet. Einige Atemzüge ver­strichen.

„Und das hat er nicht der Polizei gesagt? Wo sind die Beweise? Ich fasse es nicht, ihr sitzt da und überlegt, wie ihr das Mädchen mit Dreck bewerft und dabei wisst ihr genau …“

Nina stand auf. „Wenn Mark sagt, es war einvernehmlich dann war es so. Überleg doch mal, wieso sollte er so etwas erzählen, er hat doch nichts zu befürchten?“

„Wenn er die Wahrheit sagt.“

„Natürlich tut er das. Du kennst ihn sein Leben lang!“

Anna schüttelte mit dem Kopf. Sie wollte ihr sagen, dass genau das das Problem des Jungen war. Sie wollte fragen, wann Kai hereingeplatzt war, als ihr die Szene in der Kabine wieder einfiel.

„Wie du meinst“, sagte sie nur.

„Wir lassen die Polizei ermitteln. Sie werden die Jungs befragen, egal was Steffen will und dann werden wir es alle wissen, was passiert ist.“ Nina gab ihr einen Kuss. „Und jetzt lass uns essen.“

Sie verließ den Raum.

 

8. – 12. Juli

 

Es war drei Tage später, als durchsickerte, dass das Ermittlungsverfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt wurde. Es gab keine nachweisbaren Spuren und die Befragungen der beiden Teams hatten nichts ergeben. Die Erleichterung im Hause Crohn war für Anna spürbar, wollte jedoch nicht auf sie überschnappen.

Es hielt nicht lange an. Als Mark am Samstagabend nach einem Treffen mit Benni nach Hause kam, hatte er ein blaues Auge und schmutzige Kleidung. Er sagte, sie wären zwei Volleyballern begegnet, die sofort angefangen hätten, auf sie einzuschlagen. Steffen und Luise tobten und die Anrufe beim Vereinsvorsitzenden und dem Volleyballabteilungsleiter begannen erneut.

Anna sah die Zweifel in Ninas Miene, als sie hörte, wie ihr Bruder ins Telefon blaffte, dass sein Sohn entlastet und das Mädchen als Lügnerin entlarvt worden war.

„Glaubst du wirklich die Sache wird sich einfach so erledigen?“, fragte Anna in die Dunkelheit des Schlafzimmers. Ninas Decke raschelte.

„Ich werde meinen Neffen nicht an die Polizei aus­liefern.“

„Wenn er doch nichts gemacht hat, kann er doch bei der Aufklarung des Verbrechens helfen.“

„Das Verbrechen wurde nicht bewiesen.“

„Weil du Beweise versteckst.“

„Eine stinknormale Hose ist das. Nur du nennst sie Beweis. Ich schlafe jetzt, ich muss morgen früh raus.“ Anna spürte wie Nina sich umdrehte, ihr den Rücken kehrte.

Die Tage bis Mittwoch verstrichen, ohne dass sich etwas bewegte. Die Fronten verhärteten sich eher. Ein sommerliches Gewitter fegte über der Halle, als Anna ihrem dezimierten Team Training gab. Benni und Mark waren nicht da, auf Steffens Befehl. Er wollte die Volleyballer aus der Halle vertreiben, wegen ihrer abscheulichen Lügen und gewalttätigen Übergriffe. Er glaubte, wenn die Handballer ihr Training vor der Meisterschaft sabotierten, würde der Vereinsvorsitzende einknicken. Auch Kai fehlte. Unentschuldigt.

Der Rest der Jungs war demotiviert und auch Anna war nicht bei der Sache. Sie wusste, was passieren würde und das Training fünf Minuten früher zu beenden, verhinderte es nicht.

„Ist Kai noch da?“ Julia war sichtlich überrascht, in einer leeren Halle zu stehen, wo das Prasseln des Regens auf das Hallendach laut widerhallte. Anna schüttelte den Kopf, während sie die restlichen Hütchen einsammelte. Sie hörte keine Schritte, die Hallentür nicht wieder auf- und zugehen. Als sie aufsah, stand Julia noch da.

„Du hast bestimmt mitbekommen, dass die Polizei nicht mehr ermittelt, oder? Ich glaube Kai hat bei der Vernehmung nicht die Wahrheit gesagt.“

Anna hielt Julias Augen nicht lange stand. „Was meinst du?“ Sie wandte sich um, erleichtert darüber, die Hütchen in ihren Rucksack und die Bälle in den Ballsack räumen zu können. „Er war einer der letzten die da waren, in dieser Gartenhütte. Er hat versucht die letzte meiner Spielerinnen, die außer Lilly noch da war zu küssen. Er ist danach zurück zur Hütte gegangen.“

Anna schwieg. Sie schloss den Ballsack. „Kannst du mir seine Nummer geben? Dann rede ich mal mit ihm?“

„Was soll das denn bringen? Er kennt dich doch überhaupt nicht. Außerdem ist er minder­jährig, ich kann nicht …“

„Und wenn wir zusammen mit ihm reden?“ Sie sahen sich an. Wie vor einigen Wochen. Kurz vor dem Kuss. Es donnerte.

„Ich will nur rausfinden, was hier passiert it.“

„Ich doch auch, aber …“ Anna unterbrach sich. Sie wollte Julia nicht anlügen. Doch sie durfte nicht die Wahrheit sagen. „Wenn die Polizei …“

„Ich habe nichts von dem vergessen, was du mir über Mark und seine Familie erzählt hast. Wenn du mir jetzt in die Augen sehen und sagen kannst, dass … dass das alles nicht wahr ist, dass er damit nichts zu tun hat und auch sonst keiner von deinen Jungs, dann rede ich nicht mit Kai.“ Julias Augen suchten sie, doch Anna blinzelte wieder. Für einige Augenblicke war es still zwischen ihnen, bis auf das Prasseln des Regens.

„Soll das heißen, du weißt etwas?“

Anna wusste, dass es einen leichten Weg gab. Doch unter Julias Augen, war dieser Weg nicht zu beschreiten. „Wir reden mit Kai.“

Anna war dankbar dafür, dass Julia sie ohne Nachfrage aus der Halle gehen ließ. Der Regen empfing sie so unbarmherzig wie die Erkenntnis, dass sie das Richtige tun musste.

 

13. Juli

 

Es war Ninas Arbeitskollegin, die es ihr einige Tage später ersparte, ihrer Freundin zu erklären, wo sie hinfuhr. Soweit Anna sie am Telefon verstand, hatte die Kollegin einen Systemfehler ausgelöst und Nina, die inoffizielle IT-Abteil­ung hatte alle Hände voll zu tun und war sich nicht sicher, ob sie alles retten konnte. Was sie allerdings sicher wusste, war, dass sie es nicht zum Grillen schaffen würde. Steffen baute in seinem Garten bereits die Tische auf, Anna roch die Holzkohle, sah Luise, Mark und Ninas Eltern, als sie in ihr Auto kletterte. Sie grillten nur wenige Meter von der Hütte entfernt. Für sie war nichts geschehen. Oder es spielte keine Rolle mehr. Sie bemerkte nicht Marks Blick, als sie zurücksetzte und wegfuhr. Die Erleichterung darüber, nicht mitessen zu müssen überlagerte die Furcht vor dem was vor ihr lag. Die Grenze zwischen den Fragen, ob sie und Nina ein echtes Beziehungsproblem hatten oder ob sie vor allem ein Problem mit Ninas Familie hatte, war verwischt. Der Gedanke daran, Julia gleich zu sehen, ließ ihren Herzschlag heftiger werden.

Als Anna einen Tag zuvor noch überlegt hatte, wie sie Kai zu einem Gespräch mit ihr und der Volleyballtrainerin bewegen sollte, hatte ihr Handy geklingelt. Kais Mutter hatte ihr berichtet, dass ihr Sohn ihr etwas sagen wollte.

Allerdings war Kai blass und saß auf seinen Fingen, als Anna wenige Minuten später den Garten der Familie betrat. Sie wohnten am anderen Ende des Feldes, direkt neben dem großen Teich. Julia war schon da, saß dem Jungen gegenüber, am Tisch neben dem Pool. Seine Mutter stellte ihnen Getränke hin und nahm schließlich neben ihrem Sohn Platz. Die Sonne spiegelte sich im Pool, auf dem eine verlassene Luftmatratze schwamm.

„Sag ihnen was du mir ge­sagt hast, Kai.“

Kai blickte auf den Teich. „Ich habe bei der Polizei gelogen. Ich habe gesagt, ich hätte nichts gesehen von … von dem was passiert ist. Aber das habe ich.“ Anna spürte Julias Blick auf ihrem Ohr brennen. Vielleicht wollte sie sehen, ob Anna überrascht war, vielleicht wollte sie abwarten, ob Anna ihn zuerst fragte. Und das tat sie.

„Was hast du gesehen?“ Kai schielte zu seiner Mutter, dann zu seiner Trainerin. Ein Schweißtropfen rann seine Wangen hinab. „Mark und Benni. Sie haben sie … Lilly. Sie haben beide … sie haben sie festgehalten und sie hat gewimmert. Als die zwei mich entdeckt haben, konnte sie sich befreien und ist weggerannt.“

Anna fühlte ihre Schultern herabfallen. Benni und Mark. Er hatte Nina angelogen. Und darüber, war sie nicht im Mindesten überrascht.

„Tut mir leid“, murmelte Kai.

„Du musst dich nicht bei uns entschuldigen, dass du der Polizei nichts gesagt hast.“ Julias Stimme klang angespannt. „Die beiden haben ihn unter Druck gesetzt. Nach dem Training“, warf seine Mutter ein.

„Aber es tut mir leid, dass … das Mark …“ Anna fing Kais Blick auf. „Er ist doch dein Neffe und Steffen wird …“

„Er glaubt, es ist sinnlos etwas gegen Mark zu sagen. Er hat Angst.“

„Ich habe Mark nie anders behandelt. Und ich wollte auch nie, dass er einen Sonderstatus bekommt.“ „Trotzdem wird sein Vater das nicht gerne hören. Zumal es keine Beweise gibt.“ Kais Mutter wollte hören, wie es nun weitergehen sollte, was sie vorhatten. Doch außer einer Meldung und einer erneuten Aussage bei der Polizei fiel ihnen nichts ein. Zumal das nicht erfolgsversprechend schien. Dennoch verblieben sie so, als Anna und Julia das Haus verließen und durch die laue Sommernacht zu ihren Autos gingen.

„Alles okay?“, fragte Julia.

„Wieso fragst du?“

„Na wegen Mark.“ Anna atmete tief durch. Sie schaffe es, Julia in die Augen zu sehen. „Es hat mich nicht überrascht.“

„Du … okay.“ Die Art wie Julia ihren Autoschlüssel zurück in ihre Hosentasche schob war Aufforderung genug. Hastig gab sie ihr das wieder, was Nina ihr von Marks Version erzählt hatte. Schon bevor sie zu Ende gesprochen hatte, begann Julia mit dem Kopf zu schütteln.

„Das kann doch nicht wahr sein, was … Was geht denn in Nina vor? Sie kann doch nicht … Wo sind die Beweise denn jetzt?“

Anna zuckte mit den Schultern. „Nina ist … Das ist kompli­ziert.“

„Von mir aus. Redet sie trotzdem mit der Polizei?“

„Ich denke nicht.“

„Klasse. Und was tun wir dann jetzt?“

„Ich werde die Hose finden und damit zur Polizei gehen.“

Julia blinzelte. „Und wenn Nina das nicht will?“

„Dann ist das eben so.“

Etwas flackerte in Julias Gesicht auf, erhellte ihre Miene. Etwas, wie Hoffnung.

„Ich weiß, wir müssen noch über etwas anderes reden.“ Sie sagte es, um Julia zuvorzukommen, um sie daran zu hindern, es anzusprechen. Vergeblich.

„Du weißt, was es für mich war. Was es für dich war, kannst nur du sagen.“ Sie stieg ein und ließ Anna stehen, mit gleich zwei schweren Entscheidungen, die sie treffen musste.

 

21. Juli

 

Hätte sie Nina gefragt, hätte sie eine Gegenfrage bekommen, die sie nicht beantworten konnte, ohne ihr von Kai zu erzählen. Aber sie konnte ihr nicht von Kai erzählen, ohne dass Nina diskutieren und es vor allem ihrem Bruder erzählen würde. Mark und Benni hatten schon einmal versucht ihn einzuschüchtern. Also sagte sie gar nichts, sondern nutzte jede Gelegenheit, in der sie allein war in der Wohnung, um nach den Beweisen zu suchen. Sie erfuhr von Kais Mutter, dass die Polizei seine Aussage zwar aufgenommen hatte, aber das Ermittlungsverfahren erst mit neuen Beweisen wieder aufnehmen wollte. Julia fragte sie bei­nahe täglich, ob sie etwas gefunden hatte. Anna versicherte ihr, Bescheid zu sagen, sobald sie etwas fand und glaubte wirklich daran.

Es dauerte bis zum Wochenende, als Nina einkaufen war und Anna den Keller entrümpelte, als ihr im Schrank mit den Wintersachen eine Plastiktüte auffiel, die sie noch nie gesehen hatte. Darin befand sich eine kurze Hose, in der sie Benni unzählige Male zum Training hatte kommen sehen. Es roch nach Alkohol und etwas anderem. Sie sah Flecken an der Hose und entdecke einen Knopf am Boden der Tüte, sowie einen Stofffetzen. Als wäre der Knopf zu heftig abgerissen worden. Anna hörte es in ihrem Kopf pochen, so laut, dass sie die Schritte nicht horte.

„Wieso schnüffelst du hier rum?“ Anna wurde schwindlig, als sie Mark im Türrahmen stehen sah. „Das ist mein Keller.“

„Aber was da drin ist, geht dich nichts an! Das geht nur Nina und mich etwas an.“ Er versuchte ihr die Tüte wegzuschnappen, doch sie zog sie weg.

„Du hast Nina belogen! Du hast Benni die Schuld gegeben und auch noch behauptet, es wäre einvernehmlich …“

„Was weißt du denn schon? Du denkst, Kai weiß Bescheid? Der war hacke und eifersüchtig, weil er keine abbekommen hat.“

Anna entwich Luft aus ihren Lungen. „Woher weißt du …“

„Ich bin dir zu ihm gefolgt. Dir und deiner Volleyballtrainerin.“

Anna war sich seiner Größe und seiner kräftigen Statur noch nie so bewusst gewesen, wie in diesem Moment, wo er im engen Keller grinsend einen Schritt auf sie zumachte und sie den Schrank in ihrem Rücken spürte. Sie roch seinen Schweiß.

„Was soll das?“

„Sie ist doch deine Trainerin, oder? Oder knutscht sie mit der Alten vom Tischtennis auch so?“

Anna suchte seine Meine ab, wollte wissen, ob er bluffte, doch die Frage erübrigte sich, als er sein Handy hervorholte und ihr die Bilder zeigte.

„Da seid ihr an deinem Auto vor der Halle. Und wie ihr abgegangen seid, da wäre mir fast einer abgegangen.“

Sie wollte ihn anschreien, dass er kein Recht hatte, ihr nachzuspionieren, aber was aus ihrem Mund kam, war ein leises Krächzen. „Das geht dich nichts an.“

„Ja, aber meine Tante schon.“ Sie starrte ihn an, wollte wissen, was das bedeuten sollte, aber sie brachte keinen Ton hervor.

„Gib mir die Tüte und Nina muss es nicht erfahren. Dann machen wir ganz normal weiter mit unserer Vorbereitung auf die Meisterschaft, so wie es Papa will.“ Anna bewegte sich nicht. Als kleiner Junge war er so süß gewesen, so verhätschelt worden. Jetzt stand er vor ihr, groß, stark, bedrohlich und widerlich. Sie hasste es seine Trainerin zu sein und ihm nicht die Meinung geigen zu dürfen, sie hasste es, sich Nina zuliebe zurückhalten zu müssen.

„Was ist? Soll ich die Bilder direkt an Nina schicken?“ Er grinste, während er seinen Daumen vorwärts schob.

 

27. Juli

 

Als mit dem Wochenende keine Antworten mehr von Anna kamen, auf die Frage, ob sie etwas gefunden hatte, begann Julia zu befürchten, dass sie sich in Anna geirrt hatte. Dass sie tatsächlich zu feige war, um etwas zu verändern. Was im Frühjahr, zu Be­ginn des Sommers so vielversprechend gewesen war wie die warmen Sonnenstrahlen, das sprießende Grün, das Vogelgezwitscher und der Geruch nach Holzkohle in der Luft, lag jetzt ausgedörrt in der Hochsommerhitze. Die Felder waren abgemäht und offenbarten, dass nichts mehr zu ernten war. Die Sommerfeste waren gefeiert, die Stadt hatte genug geschwitzt und sehnte sich den Herbst und kältere Luft herbei. Und Julia hatte keine Ahnung, ob sie und Anna, das was auch immer zwischen ihnen war, bis zum nächsten Frühjahr überdauern würde. Lilly wollte in den nächsten Wochen wieder ins Training kommen, ihre Mutter schien die eingestellten Ermittlungen ganz allmählich zu akzeptieren und die Trainingstage der Handballer würden sich wohl ändern, damit es keine Treffen mehr zwischen den Abtei­lungen geben konnte. Die Zeichen standen auf Abschied. Und dennoch fuhr Julia an diesem Spätsommerabend, an dem die Sonne schon niedriger am Himmel stand aber noch erbarmungslos brannte, zu Anna rüber. Nachdem durchgesickert war, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen worden waren, aber gegen Benni, Marks besten Freund.

Schon von der Kurve aus, die die Strecke vor dem Grundstück der Crohns machte, sah Julia den Tumult. Sie fuhr auf den Parkplatz des Blumenladens, schräg gegenüber und öffnete das Fenster. Die Stimmen wehten mit der warmen Luft herein.

„Das Thema war vom Tisch! Die Ermittlungen eingestellt! Selbst wenn dem Mädchen noch was eingefallen wäre, hätte ihr niemand geglaubt! Was soll das?“ Der Mann mit dem lichten Haar und dem Hemd, in dem er schwitzen musste, war Bennis Vater. Er war einer der Sponsoren der Handballab­teilung. Er hatte seinen Arm um seinen Sohn gelegt, der um einiges kleiner und schmächtiger wirkte, als auf der Platte.

„Mark hat versucht ihn zu schützen, aber Beweise sind Beweise, es war unsere Pflicht.“

„So ein Unsinn! Sie waren es beide! Das hat der andere Junge gesagt und Benni hat das eben gerade auch der Polizei gesagt! Sie werden beide drankriegen! Wegen einem kleinen Fehler unter Alkohol versaust du ihnen das ganze Leben!“

Steffen Crohn schüttelte den Kopf. „Es gibt keine Beweise gegen Mark. Er hat nichts getan. Ich war damit einverstanden, dass er dich schützt Benni, aber nicht um jeden Preis!“ Steffen wollte hinter den Gartenzaun treten, die beiden stehen lassen.

„Er hat mich verarscht! Er hat gesagt, er verbrennt die Beweise. Wieso hat er das getan?“

Benni war den Tränen nahe.

„Verschwindet hier, bevor ich die Polizei rufe!“ Trotz der Beschimpfungen von Bennis Vater stapfte Steffen von dannen und warf die Haustür hinter sich zu. Julia beobachtete, wie Benni und sein Vater vor Wut schäumten, diskutierten und letztlich in einen BMW stiegen und wegfuhren. Sie blieb sitzen, un­schlüssig, was zu tun war. Annas Auto stand an dem Grundstück. Und während sie dort hinsah, öffnete sich die Haustür und Anna trat in Joggingkleidung heraus. Ohne sich umzusehen, lief sie auf das Feld. Julia stieg aus und folgte ihr.

 

Julia wartete, bis sie von Crohns Anwesen aus nicht mehr sichtbar waren, bis sie einen Sprint einlegte und Anna einholte, sie ansprach und zum Stehenbleiben brachte.

„Wo kommst du denn her?“, fragte sie.

„Ich habe gerade das Schauspiel vor dem Haus beobachtet. Was ist hier los? Was hast du gefunden?“ Anna wich ihrem Blick aus.

„Eine Hose. Den Beweis.“

„Und warum hast du mir nicht Be­scheid gesagt?“

Anna stemmte ihre Hände in die Hüften. Eine Windböe voll Wärme blähte ihr T-Shirt auf. „Ich …“

„Ja?“

„Es war zu … Es ging alles zu schnell.“

„Okay. Und jetzt? Warum wird nur gegen Benni ermittelt?“

„Ich bin nicht die Polizei.“

„Aber es scheint nur gegen ihn Beweise zu geben.“

Anna nickt zögerlich.

„Weil Mark das so wollte?“ Anna starrte auf den staubigen Feldweg. „Du verschweigst mir etwas, oder? Was ist hier los?“

„Nichts.“

„Das glaube ich dir nicht.“

„Es ist eben wie es ist.“

„Was ist so?“

„Ich … habe mich entschieden.“ Anna schaffte es in ihr in die Augen zu sehen, ehe sie weiterlief.

 

„Was hast du entschieden?“, rief Julia ihr hinterher, doch sie bekam keine Antwort. Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief Anna der unterge­henden Sonne entgegen. Trotz der Wärme spürte Julia einen Kälteschauer in ihrem Nacken. Sie hatte eine Ahnung, welche Entscheidung Anna meinte. Und sie war ähnlich schlecht wie Bennis, seinem besten Freund die Beweise anzuvertrauen.

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