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Weihnachtskaffee

1.      Adventswochenende

Auf einem Stuhl balancierend befestigte Hannah das Ende der Lichterkette an der großen Fensterfront, direkt über dem Schriftzug Barista. Aus ihrem tragbaren Radio, das auf dem bereits gewischten Tresen stand, dudelte Weihnachtsmusik. Dabei war der Heiligabend noch weit entfernt, nur das erste Adventswochenende stand unmittelbar bevor. Es war ein verregneter, kühler Freitagabend Ende November. Hannah stieg vom Stuhl und betrachtete ihr weihnachtlich dekoriertes Café, in dem es nach Putzmittel roch. Sie hatte länger gebraucht als sonst, um die matschigen Schuhabdrücke vom Boden zu entfernen. Doch da sie heute ausnahmsweise mal früher geschlossen hatte, war sie alles in allem früher fertig geworden, als sie geglaubt hatte.

Und jetzt wurde es Zeit, nach Hause zu fahren und mit Marie die Wogen zu glätten. Sie würde sich freuen, dass Hannah heute früher Schluss gemacht hatte, dass sie sie überraschte, nach den arbeitsintensiven letzten Wochen. Und wenn sie Marie schon vorzeitig von ihrem Weihnachtsgeschenk berichten würde, könnte zwischen ihnen alles wieder werden wie früher.

Während sie das Radio abschaltete und mitsamt dem Wischmopp in den Abstellraum stellte und anschließend das Café verließ, dachte sie bereits an Maries strahlende Augen, wenn sie ihr von ihrer Idee erzählte. Sie würde das Café für die ersten drei Wochen im neuen Jahr geschlossen lassen und mit Marie in einem gemieteten Wohnmobil durch die Gegend fahren.

Hannah eilte durch den feuchten Abend zu ihrem Wagen. Natürlich wusste sie, dass Marie anmerken würde, dass bis dahin noch einige Wochen verstreichen würden, Wochen, die für Besinnlichkeit stehen sollten. Sie würde fragen, ob Hannah die Versorgung der Stände auf dem Weihnachtsmarkt abgesagt hatte oder zumindest einige der anderen Verpflichtungen, die sie sich in der Adventszeit aufgehalst hatte. Marie würde sich wünschen, dass Hannah mit ihr auf die Weihnachtsfeier ihrer Firma ging und sie auf die Adventsfeiern zu ihrer Familie begleitete. Die Fahrt nach Hause durch den dunklen Abend dauerte keine zehn Minuten, dann parkte Hannah ihr Auto am Straßenrand vor dem Mietshaus mit der roten Fassade. Durch die Vorhänge vor dem Schlafzimmerfenster fiel gedämpftes Licht.

Hannah wusste nicht, an was sie dachte, als sie durch den Niesel­regen zur Tür stapfte und aufschloss. Sie wusste nicht, was sie dachte, als sie die Geräusche hörte, noch ehe sie die Tür schließen konnte. Sie wusste nicht, ob sie sofort verstand. Hannah schlüpfte aus ihren Schuhen, lief durch das Wohnzimmer auf die Stimmen zu. Die Stimmen aus dem Schlafzimmer, die Musik. Sie stoppte in der Mitte des Raumes, Maries lustvolles Stöhnen durchschoss ihren Körper, nagelte ihre Füße auf dem Teppich fest. Einige Atemzüge, konnte sie sich nicht bewegen. Einige Atemzüge lang, spürte sie nichts, hatte sich die ganze Welt um sie herum aufgelöst.

Dann begann eine Frauenstimme zu sprechen. Eine Stimme, die sie kannte. Hannah stürmte vorwärts, stieß die Schlafzimmertür so fest auf, dass sie gegen die Kommode krachte. Die Kommode, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Zuerst hörte sie nur erschrockenes Japsen, als wären ihre Ohren von ihren Augen getrennt. Dann sah sie das Zappeln der Bettdecke, zwei nackte Körper, die daraus hervorlugten. Marie starrte sie an.

„Hannah, was …“ Hannahs Blick schweifte zu der Frau neben ihr. Maries Kollegin, die erst vor einigen Wochen abends zum Essen hier gewesen war, als Hannah die Wohnung betreten hatte.

„Es …“, Marie wimmerte fast. „Es ist nicht so, wie …“

Hannah machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus der Wohnung. Ihr Herz hämmerte in ihrem Schädel.

„Hannah! Hannah, warte!“ Sie warf die Tür ins Schloss, Maries Rufe ver­stummten.

 

Sie hatte nicht geschlafen. Der Boden im Vorratsraum war staubig und hart gewesen, die zerschlissene Decke, die sie als Abdeckung für die Kaffeebohnen benutzt hatte, hatte ihr kaum Wärme gespendet. Aber all das war nichts gegen die Bilder gewesen, die in Hannahs Kopf herum gespukt waren, sobald sie ihre Augen geschlossen hatte. Bilder von Marie und ihrer Kollegin, in ihrem Bett.

Um fünf Uhr morgens wuchtete Hannah sich auf ihre schmerzenden, müden Knochen. Sie wusste, was ihr bevorstand, sobald der Schock ihren Körper verließ. Quälende Fragen und tiefer Schmerz, der die Macht besaß, ihren gesamten Körper zu lähmen. Sie machte Licht im Café. Die Lichterkette, die sie gestern angebracht hatte, tauchte die Tische in festliche Farbkleckse. Die weihnachtlichen Figürchen auf den Tischen starrten sie an. Sie hatte ihr Handy auf dem Tresen liegen gelassen. Zwei Anrufe in Abwesenheit von Marie wurden ihr angezeigt. Zwei. Keine Nachricht. Sie hatte auch nicht mitten in der Nacht an der Tür zum Café gerüttelt.

Hannah stellte die Siebträgermaschine an, weil das immer die erste Maschine war, die sie morgens anstellte. Normalerweise trank sie in Ruhe einen Espresso, bevor die Gäste hereinkamen. Doch heute glaubte sie, nie wieder einen Espresso trinken zu können. Normalerweise machte sie sich morgens ein wenig Musik an, wenn sie zu kochen und backen begann. Normalerweise liebte sie diese Jahreszeit. Hannah griff nach der Box, aus der sie gestern erst die Weihnachtsfigürchen hervorgekramt hatte und stapfte zu den Tischen, um jede einzelne Figur wieder einzupacken. Dann schnappte sie sich einen Stuhl und stellte sich darauf, um die Lichterkette vom Fenster zu reißen.

Die Straße, die am Café vorbeiführte, war menschenleer zu dieser frühen Stunde. Nur vereinzelt leuchteten Scheinwerfer auf, brachten Reifen das Regenwasser, das sich in Pfützen gesammelt hatte, zum Spritzen. Gerade als Hannah die Hälfte der Kette vom Fenster gelöst hatte, fuhr eine lange, schwarze Limousine am Café vorbei – und hielt plötzlich mit quietschenden Reifen direkt vor der Tür. Eine Frau stieg aus dem hinteren Teil des Wagens aus. Groß, kurze blonde Haare, die zerzaust aussahen, wie nach einer langen Partynacht. Luca von Pohl, die letzte Person, die sie heute Früh ertragen konnte.

Sie rüttelte an der verschlossenen Tür und klopfte an die Scheibe. Hannah hätte auf das Geschlossen-Schild deuten können, doch sie wusste, die Frau würde sich nicht abwimmeln lassen. Sie stieg vom Stuhl.  

„Gott sei Dank, du bist schon da.“

„Ehrlich gesagt, habe ich noch nicht …“ Doch Luca stolperte bereits über die Schwelle, brachte einen Schwall der feuchten Luft von draußen mit herein. Ihr Mantel roch nach Rauch, sie selbst roch nach Alkohol. Der Blick aus ihren blauen Augen war glasig.

„Ich brauche unbedingt deinen Weihnachtskaffee. Steht der schon bei dir auf der Karte?“

„Es …“

„Ich sehe schon … eine Lichterkette.“ Luca sah sich im Café um und deutete auf die noch halb hängenden, bunten Leuchten am Glas. „Die Weihnachtszeit hat offiziell begonnen im Barista.“

Hannah seufzte. „Ich mache dir einen Espresso.“ Sie schritt zur bereits warmen Siebträgermaschine hinter den Tresen und wischte den Siebträger trocken.

Luca folgte ihr und redete über das Mahlen der Bohnen auf sie ein. „Ich war die ganze Nacht auf dieser Wohltätigkeitsveranstaltung. Ein Haufen reicher Säcke, die den ganzen Abend über auf Gutmenschen machen und einen Haufen Kohle für die Armen und Unterprivilegierten spenden und sobald das Licht ausgeht, saufen sie sich die Hucke voll. Das ist der einzige Grund, warum die da aufschlagen. Mein Vater hat mir befohlen mitzumachen und jetzt muss ich in zwei Stunden fit genug sein, um irgendein blödes Geschäftsfrühstück durchzustehen. Er will mir mal wieder vorschreiben, über was ich schreiben soll.“ Luca fuhr sich über die Augen, während Hannah den Siebträger einspannte und den Espresso in eine Tasse durchlaufen ließ. Sie sagte nichts, als sie die Tasse vor Luca auf den Tresen stellte. Luca schob ihr einen Schein zu.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“

„Klar. Was soll sein?“ Hannah reichte ihr das Wechselgeld.

„Naja, irgendwie warte ich darauf, dass du mir sagst, dass ich doch sowieso jede Nacht durchfeiere. Und dass es mir guttut, der Gesellschaft mal etwas zurückzugeben.“ Luca kippte ihren Espresso.

„Dafür ist es noch zu früh.“ Hannah ging um den Tresen herum und machte sich daran, den Rest der Lichterkette abzuhängen.

„Wieso hängst du das wieder ab?“

Eine dunkelhaarige, hübsche Frau stieg aus der Limousine und rief lauthals durch den dunklen Morgen nach Luca. Sie kam Hannah vage bekannt vor.

„Deine Begleitung verlangt nach dir.“ Sie drehte sich nicht um, wartete, bis sie Lucas Schritte langsam das Café verlassen hörte. Die Journalistin drehte sich noch einmal verwundert zu ihr um, ehe sie hinter der dunkelhaarigen wieder in die Limousine stieg. Der Wagen fuhr los.

Als er außer Sichtweite war, hatte Hannah die Lichterkette vom Fenster gefummelt. Und begann zu weinen.

 

Ihr Vater hatte wie immer kein Blatt vor den Mund genommen. Richard von Pohl hatte ihr bereits während des Frühstücks mit den drei ranghöchsten Tieren seiner Verlagsgruppe zu verstehen gegeben, dass er von ihrem Enthüllungsjournalismus nichts hielt. Es war nicht überraschend gewesen. Sie hatte nicht erwartet, dass er ihren investigativen Artikel über die Geschäfte eines Pharmakonzerns mit der Gesundheitsministerin zu schätzen wusste. Er hatte schon immer andere Pläne für sie gehabt. Sie sollte für seine Zeitung über wirtschaftliche Fusionen und Börsengänge schreiben, über die Dinge und Menschen, die er für wichtig und gesellschaftsrelevant hielt. Doch seine Ansage nach dem Frühstück, als er sie in sein Arbeitszimmer zitiert hatte, war mehr als einfacher Unmut gewesen.

„Hast du eine Ahnung, was du mit diesem Artikel angerichtet hast?“, hatte er geblafft, während sie müde und mit Kopfschmerzen in den Sessel vor seinem Schreibtisch gesunken war. Er hatte sich nicht gesetzt.

„Der Artikel hat Wellen geschlagen und die Politik will einen Untersuchungsausschuss gründen.“

„Ulrich Klein ist ein Freund von mir seit dem Studium! Und du hast ihn verunglimpft! Du hast ihn zum Gespött gemacht! Einen hart arbeitenden Mann, der sein Unternehmen voranbringen wollte und mit seinen Medikamenten Millionen Menschen das Leben gerettet hat!“

„Er hat eine Politikerin erpresst, um …“

„Das weißt du doch gar nicht! Du weißt nicht, wie diese Welt funktioniert! Du hast keine Ahnung von Politik, weil du dich immer geweigert hast, dich mit dem zu befassen, was ich dir sage! Aber ich sage dir, das hört jetzt auf!“

„Was soll das heißen?“

„Spar dir diesen Ton!“ Sein Finger war hervorgeschnellt, Spucketröpfchen auf den Sessel geflogen. Luca hatte ihren schmerzenden Kopf festgehalten und nur gehofft, dass die Ansprache ein baldiges Ende fand.

„Du wirst diesen investigativen Unsinn jetzt sein lassen. Keine Recherchen mehr, keine Artikel über unsere Freunde, mit denen du mich und deine Mutter bloßstellst.“

„Ich schreibe doch nicht über euch. Das …“

„Du bist unsere Tochter und wenn du dich so benimmst, aus Trotz uns gegenüber, dann machst du uns vor aller Welt lächerlich.“

„Hatten wir diese Unterhaltung nicht schon tausendmal?“

„Ja, aber von jetzt an, machst du, was ich sage. Du wirst eine Weile für das Feuilleton schreiben. Und wenn Gras über die Sache gewachsen ist, wirst du mit Ulrich an seiner Biografie schreiben. Und den Schaden, den du angerichtet hast, wieder gutmachen.“

„Was? Nein, ich …“

„Wenn du das nicht machst, bist du gefeuert. Und das ist mein voller Ernst.“

Sie hatte gewusst, dass eine Widerrede sinnlos gewesen wäre. Ihr Leben lang war Widerrede sinnlos gewesen, wenn ihr Vater diesen Ton angeschlagen hatte. Sie hatte zu tun, was er sagte. Seine Angestellten waren anwesend gewesen, damit sie sie kennen lernen konnten, damit sie sofort verstand, wo von nun an ihr Platz war.

Sie kannte nur einen Weg, um mit solchen Momenten umzugehen. Luca hatte Pauline angerufen und sich mit ihr auf dem gerade eröffneten Weihnachtsmarkt verabredet. Der Chauffeur fuhr sie am Barista vorbei, das überraschenderweise dunkel und geschlossen dalag. Der Weihnachtsmarkt lag nur wenige hundert Meter entfernt in der Stadtmitte. Es war ein grauer, feuchter Samstagmittag und der Platz zwischen den kleinen, beleuchteten Buden war gut besucht. Es duftete nach Bratwurst, Pommes, gebrannten Mandeln und Crêpes. Und vor allem nach heißem Alkohol.

Luca fand Pauline umringt von einer Ansammlung junger Männer und Frauen, die alle ein Foto mit ihr wollten. Seitdem sie die Model Castingshow gewonnen hatte, ging es mit ihrer Karriere steil bergauf. Sie war Moderatorin einer Promitalkshow und wurde vor allem für Unterwäscheshootings gebucht. Die sozialen Medien lagen ihr zu Füßen. Und für jetzt passte Luca zu ihr, zu ihrer neuen, aufregenden Lebensphase. Sie war ein Experiment. Bereits an Heiligabend, könnte Pauline schon danach sein, mit einem Fußballer auf einer exotischen Insel in der Sonne zu liegen. Um den nächsten Schritt ihrer Karriere einzuleiten.

Luca holte sich einen Glühwein und stand etwas abseits von der Menschentraube um Pauline, die sie noch überhaupt nicht bemerkt hatte. Sie trank den heißen Wein, dessen Geruch bereits die Kopfschmerzen der letzten Nacht linderte. Sie trank Schluck um Schluck, um die Worte ihres Vaters zu verdauen und zu vergessen und ließ sich von den Geräuschen um sie herum einlullen.

Eine Gruppe älterer Frauen stand hinter ihr und unterhielt sich bei Bratwurst und Feuerzangenbowle.

„Das kann doch nicht wahr sein!“

„Doch, doch, ihre Mutter hat es mir vorhin erzählt! Was meinst du, warum das Café zu ist? Das würde Hannah doch sonst nicht tun!“

Luca schielte über ihre Schulter zu den Frauen hinter ihr. Sie mussten allesamt um die sechzig sein, hatten graue Haare und stämmige Hüften. Die, die am nächsten zu Luca stand, schien den Rest zu informieren.

„Sie holt gerade ein paar Sachen aus der Wohnung und zieht erstmal wieder in die kleine Wohnung über Trude.“

„Haben die beiden sich jetzt getrennt?“

„Ach wer weiß schon, wie das bei so einem Paar heißt oder abläuft. Aber sie kam gestern Abend nach Hause und hat ihre Marie mit einer Kollegin erwischt. Und jetzt zieht sie erstmal ins Haus ihrer Mutter.“

„Und was heißt das jetzt für das Café? Hannah sorgt doch immer für so eine tolle Weihnachtsstimmung! Und sie versorgt doch ein Viertel der Stände hier mit Gebäck! Und Kaffee! Und sie ist ehrenamtliche Helferin bei den vielen Weihnachtsfeiern. Ohne sie und ihre Organisation … Fällt das dieses Jahr alles ins Wasser?“

Die Runde warf sich schulterzuckend Blicke zu. Luca nahm einen Schluck von ihrem Glühwein. Ihr Blick wanderte zu der dunklen Scheibe des Barista. Und weiter zu Pauline, die noch immer fleißig Fotos machte, doch die Schlange wurde kürzer. Sie hatte sie entdeckt und warf ihr eine Kusshand zu. Luca bestellte einen zweiten Glühwein.

 

Die Dunkelheit vor dem Küchenfenster ihrer Mutter wurde von weihnachtlichen Lichtern an den Straßenlampen erhellt. Der 1. Advent stand vor der Tür. Die Lichter bildeten Sterne. Hannah kippte sich noch einen Eierlikör ein und leerte ihn in einem Zug. Ganz allmählich verwischten sich die Gedanken in ihrem Kopf zu einer nichtssagenden Schmier.

„Spatz jetzt lass das doch! Dein Bruder kommt gleich mit dem Kleinen zum Backen rüber! Alkohol auf dem Tisch und seine angetrunkene Tante, sind doch kein Anblick für ihn!“ Ihre Mutter nahm den Eierlikör vom Tisch und stellte ihn zurück in den Küchenschrank.

„Wieso backen die beiden dann nicht drüben bei Daniel?“

„Weil der kleine Tim seine Tante sehen möchte und seine Tante zufällig die beste Bäckerin in der Stadt ist.“ Trude nahm ihrer Tochter auch das Glas weg und ignorierte ihre Proteste.

„Mir ist heute aber nicht danach, Tante und Bäckerin zu sein. Ich möchte einfach nur Hannah sein und … Eierlikör trinken.“

Ihre Mutter seufzte. Sie zog sich den Stuhl neben Hannah zurecht und ließ sich darauf nieder. Mit ihrer Hand griff sie nach der ihrer Tochter. „Jetzt nimm es doch nicht so schwer. Das mit Marie und dir war doch sowieso nichts für die Ewigkeit.“

Hannah schnaubte. „Ach nein? Und du weißt das?“

„Du hattest sie sehr gern, aber …“

„Ich hatte sie nicht einfach nur gern. Ich … Vergiss es.“

„Ich habe dir schon immer gesagt, dass ein Mann für dich besser …“

„Um Himmels Willen, Mama. Müssen wir das schon wieder durchkauen? Ausgerechnet heute?“

„Ist ja schon gut.“ Ihre Mutter ließ sie los. „Dann lass uns doch schon mal mit dem Teig anfangen. Der Kleine freut sich am meisten, wenn er die Plätzchen ausstechen kann.“

Hannah schüttelte den Kopf. „Ich gehe nach oben.“

„Was? Aber Tim und Daniel werden gleich hier sein!“

„Dann müssen die beiden eben allein Plätzchen ausstechen.“

„Du kannst doch nicht einfach …“

„Mir geht’s nicht gut.“ Hannah erhob sich.

„Der Eierlikör?“

„Genau. Der Eierlikör“, seufzte Hannah und spürte den Blick ihrer Mutter in ihrem Rücken, als sie aus der Küche schlich und die Treppe nach oben nahm, in die kleine Zweizimmerwohnung, oberhalb der Wohnung ihrer Mutter. Das letzte für was sie heute Kraft hatte, war fröhliches Backen mit ihrem Neffen und ihrem Bruder.

 

„Einen wunderschönen Guten Morgen! Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr aus der Küche heraus.“ Luca zückte ihr Portemonnaie als Hannah mit einer Schürze um die Hüfte aus der Küche an den Tresen trat. Ihr Blick schweifte durch den Gastraum, an dem jeder Tisch besetzt war. Luca meinte, das Stimmengewirr und das Klirren von Tassen und Besteck etwas abebben zu hören. Hannah sah schlecht aus. Sie hatte gerötete Augen und sah müde aus.

„Ingrid bedient heute.“

„Kann ich trotzdem bei dir bezahlen?“

„Wenn es sein muss.“ Hannah trat an die Kasse und schien die Rechnung für Lucas Tisch zu suchen. Luca sah im Augenwinkel, wie sich die Köpfe nach Hannah drehten.

„Und? Wie geht’s?“

Hannah hielt ihre Rechnung in der Hand und sah auf. „Wieso fragst du?“

„Naja, ich war gestern auf dem Weihnachtsmarkt und da habe ich eventuell gehört, dass …“

„Was?“

„Du erstmal wieder zu deiner Mutter gezogen bist.“

„Und wieso grinst du?“

„Ich grinse nicht. Ich wollte dir eher sagen, dass es mir leidtut, dass …“

„Dass was?“

„Dass es dir nicht gut geht.“

Hannah legte die Rechnung vor sie auf den Tresen. „Das macht fünfundzwanzig Euro. Und ich brauche kein Mitleid.“

Luca suchte die richtigen Scheine. „Ich habe doch kein Mitleid mit dir. Dafür hast du mir viel zu oft Vorträge darüber gehalten, dass ich der Gesellschaft nichts zurückgeben würde. Dafür, dass du der Gesellschaft hier so viel gibst, scheint ja keiner dir etwas zurückgeben zu wollen. Du hättest das gestern mal hören sollen. Die haben sich nur darum Sorgen gemacht, dass du ausfällst und sie sich nicht auf albernen Festen besaufen können, wenn du dich nicht um alles kümmerst. Hannah versorgt die Stände hier. Fällt das alles ins Wasser? Lächerlich, die sollten …“

„Nein, das ist nicht lächerlich.“ Hannahs Stimme war lauter, als sie sein musste. Luca sah auf, das Geld in ihrer Hand.

„Du bist lächerlich! Du denkst den ganzen Tag nur an dich und hast keine Ahnung, was es bedeutet, Teil einer Gemeinschaft zu sein.“

„Moment mal, ich …“

„Du bist Journalistin und machst nichts anderes, als andere Leute zu zerreißen. Du tauchst fast jede Woche mit einer anderen Tussi hier zum Frühstück auf und jede scheint lieber in ihr Handy zu sprechen, als mit dir. Du lebst vom Geld deines Vaters in dieser Gemeinde und hast dich noch nie irgendwo eingebracht! Was weißt du schon darüber, wie die Dinge hier funktionieren?“

Luca starrte sie an. Im Café war es still geworden. Sie hörte nur Paulines Stimme, die zu ihren Followern ins Handy sprach.

„Behalt dein Geld, ich will es nicht.“ Hannah drehte sich um und stapfte zurück in die Küche. Luca blieb am Tresen stehen und sah ihr nach.

 

2.      Adventswochenende

Wir dürfen nicht immer nur an uns denken. Wir müssen immer bedenken, welchen Einfluss unsere Handlungen, unsere Worte und Taten, auf andere haben und haben können. Wenn wir so denken, wenn wir etwas für die Allgemeinheit tun, können wir die Welt verändern.

 

Die Worte ihres Interviewpartners wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen. Die Temperaturen schwankten um den Gefrierpunkt, als Luca am späten Freitagabend durch die Dunkelheit stapfte. Sie hatte ihre Hände in ihren Manteltaschen vergraben und ihre Ohren in ihren Mantelkragen gezogen. Ein paar Schneeflocken verirrten sich zu Boden, ohne dass Luca sich Hoffnung machte, auf ein winterliches Wochenende.

Die Straßen waren bis auf den Weihnachtsschmuck an einigen Vorgärten, Ladenfenstern und Straßenlampen, trist und grau und würden so bleiben. Die Gehwege waren wie leergefegt, nur vereinzelt kamen ihr noch Autos entgegen. Unter normalen Umständen wäre sie jetzt auch im Warmen und würde den Abend mit Pauline und einem Glas Wein auf dem Sofa ausklingen lassen. Doch Pauline war für einen Dreh unterwegs und meldete sich nicht. Es schien, als wäre ihre Zeit bereits gekommen. Was hieß, es wäre Zeit für Luca sich ins Nachtleben zu stürzen, doch die Worte dieses Menschenrechtlers, den sie im Auftrag ihres Vaters interviewt hatte, wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Sie hatte das Interview abgetippt und bei ihrem Redakteur eingereicht. Sie sollte das Thema abhaken.

Eine Stimme in der Nähe ließen sie aufsehen. Ihre Schritte hatten sie in die Stadtmitte getrieben. Der Weihnachtsmarkt am Platz hatte bereits seine Buden geschlossen, er lag verwaist und still da. Doch um die Ecke, vor dem Barista, stand eine Frau auf der Straße und sprach lautstark in ihr Handy. Luca hatte sich die ganze Woche vom Café ferngehalten. Aber es war nicht Hannah, die auf der Straße stand und telefonierte. Die Frau war etwas dicklich, mit grauen Haaren. Es war Hannahs Angestellte.

„Bitte, wir brauchen jemanden, der kurzfristig einspringt! … Das weiß ich. Einen Todesfall in der Familie kann man eben nicht einplanen. … Es geht doch nur darum, dass jemand ein paar Stunden am Grill steht. Hannah kümmert sich um alles weitere! Um den Kaffee, das Gebäck. … Ist das dein Ernst? … Gut, danke für nichts!“ Ingrid legte fluchend auf, als Luca sie erreichte.

„Probleme?“ Luca sah durch das Fenster des Barista. Die Lichter waren aus, das Café sah verlassen aus.

„Sozusagen. So spät noch unterwegs?“

„Was ist denn los?“

„Trotz allem was passiert ist, stellt Hannah sich morgen stundenlang an den Fußballplatz, um für die Vereinsfeier Kaffee und Gebäck bereitzustellen. Ich sollte den Grill bedienen, aber mein Vater ist gestorben und jetzt versuche ich einen Ersatz für mich zu finden, damit Hannah nicht alleine da steht, aber …“ Sie ließ den Satz unvollendet und sah auf ihr Handy, als ginge sie ihre Kontaktliste durch.

„Das tut mir leid.“

„Er war sehr krank.“

„Ich könnte es tun.“

„Bitte?“ Ingrid sah sie verwirrt an. „Was könnten Sie?“

„Ich könnte morgen Vormittag den Grill bedienen.“

Ingrid starrte sie an. „Ich … Sind Sie sicher? Sind Sie nicht …“ Wieder sprach sie den Satz nicht zu Ende.

„Doch, ich mache es gerne.“

Ingrid blinzelte, doch das Erstaunen wollte nicht aus ihren Augen verschwinden.  

 

Es war ein nasskalter, grauer Samstagmorgen. Die Luft war kalt und biss in Ohren und Finger. Eine Mischung aus Regen und Schnee fiel aus den dunklen Wolken. Dennoch ging es am Fußballplatz hoch her. Am Vereinsheim herrschte geschäftiges Treiben, weil die letzten Tische aufgebaut und die letzten Kabel verlegt wurden. Die Kohle am Grill dampfte bereits. Auf dem Platz wurden die ersten Bälle gekickt, Kinderschrei und Stimmengewirr der Erwachsenen flogen durch die Luft.

Hannah bemühte sich, sich voll und ganz auf das Kochen des Kaffees zu konzentrieren und die Blicke zu ignorieren, die sie trotz der Kälte heiß auf ihrer Haut spürte. So bemerkte sie Luca erst, als sie sie begrüßte.

„Was machst du denn hier?“

„Ich habe gehört, dass du am Grill Unterstützung gebrauchen könntest.“ Luca legte ihren Schal ab und trat an den Grill, der ein Stück neben Hannahs Kaffee- und Kuchentisch stand. Einer der Männer in Trainingsanzügen, der gerade noch einen Tisch geschleppt hatte, begann Luca zu erklären, wo sie die Bratwürste finden, konnte und half ihr, die erste Ladung auf den Rost zu legen. Hannah verharrte, den Wasserkocher mit dem heißen Wasser in der Hand. Bis ihr die ersten Blick auffielen. Sie goss das Wasser in den Filter und begann dann den Kuchen neu auf dem Tisch zu arrangieren. Doch es half nichts.

Noch bevor die Weihnachtsfeier der Fußballer auf dem Platz richtig in Gang kam, war der Kaffeestand gefragt. Hannah füllte Kaffee in Becher und Kuchen auf Servietten und spürte die neugierigen, mitleidigen Blicke auf sich. Sie hörte es in den zögerlichen Fragen, die ihr gestellt wurden.

„Und wie geht es dir?“

„Du wohnst wieder bei deiner Mutter?“

„Hast du denn noch etwas von Marie gehört?“

„Du weißt ja, in einer kleinen Gemeinschaft machen große Dinge immer schnell die Runde. Kann ich denn etwas für dich tun? Du siehst blass aus.“

Hannah bemühte sich alle Fragen abzuwiegeln, sich nur auf das Eingießen von Kaffee zu servieren. Als die ersten Spiele auf dem Rasen begannen, wurde es leerer an ihrem Stand und am Grill nebenan. Sie war gerade dabei, die Kuchenstücke aufzufüllen, als Luca vor sie trat.

„Zwei Kaffee bitte.“

„Zwei?“

Luca nickte. Hannah befürchtete bereits, dass Lucas nervige kleine Moderatorin gleich um die Ecke biegen würde, doch dann sagte Luca: „Einer ist für dich.“ Sie drückte einen Zwanzig Euro Schein in die Spendenbox und nahm ihren Becher entgegen.

„Danke“, murmelte sie, als sie ihren ersten Schluck Kaffee heute überhaupt nahm. Luca richtete ihren Blick auf den Rasen, wo die Kinder angefeuert von ihren mit Essen und Trinken versorgten Eltern über den Platz wetzten. In ihrem teuren Mantel wirkte Luca fehl am Platz an diesem Ort.

„Verrätst du mir jetzt, warum du hier bist?“, fragte Hannah.

Luca drehte sich zu ihr um. „Das habe ich doch schon. Ich habe gehört, dass du Unterstützung gebrauchen könntest.“

„Und seit wann interessiert dich so etwas?“

Luca zog ihre Augenbrauen zusammen. „Du hältst nicht viel von mir, oder?“

Hannah wandte ihren Blick ab. Sie hatte Maries Stimme noch im Ohr. Die Urlaube, die sie hatte machen wollen, die Wohnung, die sie hatte kaufen wollen, das Auto, das sie hatte fahren wollen. Marie hatte immer etwas anderes gewollt als Hannah. Sie hatte immer etwas gewollt, das Hannah ihr nie hatte geben können.

„Nein, ich … es hat nichts mit dir zu tun.“

„Das hat sich letztes Wochenende anders angehört.“

„Ich war schlecht drauf. Tut mir leid.“

Luca nahm einen Schluck Kaffee. „Ja, schon gut.“ Sie schwiegen einige Augenblicke. „Und warum bist du hier?“

„Was meinst du? Ich hatte zugesagt.“

„Klar, aber du bist gerade mitten im Auszug. Und jeder hier steckt seine Nase in deine Angelegenheiten. Ich glaube, ich hätte mich lieber … versteckt.“

„Die Kinder können aber nichts dafür.“

„Die Kinder trinken keinen Kaffee.“

„Außerdem … bin ich lieber hier, als alleine zuhause.“

„Verstehe.“

Hannah beäugte sie, während sie einen Schluck von ihrem Kaffee nahm. „Ach ja? Wo ist denn deine Freundin heute?“

Luca zuckte mit den Achseln, starrte in ihren Becher. „Sie ist nicht … Ich weiß nicht.“

„Dann verstehe ich nicht, warum du so viel Zeit mit ihr verbringst.“

Luca begann zu grinsen. „Und ich verstehe nicht, weshalb du dieser Marie überhaupt hinterher trauerst.“

Hannah sah sie an, versuchte zu verstehen, wie sie das gemeint hatte. Aber Luca grinste bloß und wandte sich dann einem kleinen Jungen zu, der sich schüchtern dem Grill näherte. Hannahs Blick, blieb auf ihr hängen, Lucas Worte pulsierten in ihren Ohren.

 

„Noch einen Cappuccino für Tisch drei.“ Ingrid räumte zwei benutzte Teller und Tassen in die Abspülwanne hinter dem Tresen.

Hannah brummte, doch sie hob ihren Blick nicht von der Zeitung, die sie auf dem Tresen ausgebreitet las. Die Stimmen und Geräusche im Café vermischten sich zu einem Hintergrundrauschen in ihren Ohren. Es war Sonntagvormittag am zweiten Advent, die beste Zeit für ein spätes Frühstück.

„Hannah?“

„Hm?“

„Was machst du denn da? Suchst du eine Wohnung?“

„Was?“ Hannah sah auf. Ingrid stand neben ihr und lud ein Stück Pfirsichkuchen auf einen Teller.

„Was ist denn mit dir? Der Laden ist voll.“

Hannah folgte ihrem Blick. Alle Tische waren besetzt, es roch nach Kaffee und Pfannkuchen aus der Küche. Lachen summte durch das Barista. Doch Luca war nicht da.

„Ich … Was hast du gerade gesagt?“

„Ich sagte, ich brauche einen Cappuccino für Tisch drei. Was steht dann da so spannendes?“ Ehe Hannah die Zeitung wegziehen konnte, trat Ingrid neben sie und warf einen Blick auf den aufgeschlagenen Artikel. Dann zog sie vielsagend ihre Augenbrauen nach oben.

„Ein Artikel über die von Pohls und einen Wirtschaftsfuzzi? Seit wann liest du denn sowas?“

„Hier steht, dass Lucas Vater die investigative Recherche seiner Tochter für fehlerhaft hält und er entschuldigt sich bei diesem Pharmaheini.“

„Und?“

„Das ist doch … Außerdem schreibt dieser Reporter, dass Lucas Vater mit diesem Ulrich Klein befreundet ist.“

Ingrid sah sie an. „Ich dachte, du kannst diese Luca nicht leiden?“

„Das habe ich nie gesagt.“

„Also magst du sie?“

„Ich … ich bin nur überrascht, dass ihr Vater …“

„Aha.“

Hannah schüttelte den Kopf. „Lass das.“

„Habt ihr euch gestern beim Fußball unterhalten? Es war nett von ihr, dass sie eingesprungen ist, oder?“

Hannah seufzte und schloss die Zeitung. „Das war es. Ich mache jetzt den Cappuccino.“ Sie ließ Ingrid stehen, als sie an die Siebträgermaschine trat. Doch sie sah im Augenwinkel, wie Ingrid zu grinsen begann, während sie in der Küche verschwand.

 

Ihr Vater nahm ihre Anrufe nicht entgegen. Luca legte ihr Handy auf den Artikel. Auf den Artikel, der sie bloßstellte und ihre Karriere infrage stellte. Sie hätte es wissen müssen. Sie hätte wissen müssen, dass es nicht einfach bei einer Ansage ihres Vaters bleiben würde.

Für einen Augenblick starrte sie reglos hinaus in den tristen, kalten Dezembertag. Es regnete nicht, es schneite nicht. Es war einfach grau. Als ihr Handy vibrierte, griff sie so hektisch danach, dass es ihr fast vom Küchentisch fiel. Doch es war kein Rückruf ihres Vaters. Es war eine SMS von Pauline.

 

Hey, ich hoffe es geht dir gut. Tut mir leid, dass ich mich einige Tage nicht gemeldet habe. Im Moment und in der nächsten Zeit ist einfach sehr viel los bei mir. Ich denke, ich muss mich jetzt erstmal auf mich fokussieren. Und du scheinst ja auch, einiges privat klären zu müssen. Bis bald.

 

Luca schaltete ihr Handy aus.

 

3.      Adventswochenende

Hannah spülte gerade die Siebträger aus, als die letzten Kunden endlich einen Blick auf die Rechnung warfen, die Hannah ihnen bereits vor zehn Minuten auf den Tisch gelegt hatte. Es waren zwei ältere Frauen, die nun auseinanderklamüserten, wer wie viele Scheine hinblätterte.

„Vielen Dank und einen schönen Abend noch“, rief Hannah den beiden hinterher, als sie schließlich in ihre Jacke schlüpften, ihre Kapuzen zurechtrückten und nach draußen traten. Jenseits der Scheiben des Barista herrschte bereits Dunkelheit. Es war später Samstagabend und eine Mischung aus Schnee und Regen benetzte die Scheiben. Im Schein der weihnachtlichen Straßenbeleuchtung draußen liefen immer wieder lachende Gruppen am Café vorbei. Sie mussten vom Weihnachtsmarkt kommen, der an diesem Samstagabend mit Sicherheit gut besucht sein würde.

Hannah sammelte das Geld vom Tisch, räumte das Geschirr ab und wischte über das Holz. Als sie die Spülmaschine eingeschaltet hatte, legte sie den Schalter der Siebträgermaschine um. Ihr Licht erlosch, das Dampfen erstarb. Im leeren Café wurde es still, abgesehen vom Rumpeln der Spülmaschine aus der Küche. Es war der Augenblick des Tages, an dem sie ihre Schultern endlich herabfallen spürte.

Hannah trat in die Küche und nahm sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. Sie sollte nach Hause gehen und mit dem Backen anfangen. Einige Stände auf dem Weihnachtsmarkt erwarteten für morgen Nachmittag am dritten Advent eine neue Ladung Weihnachtsplätzchen. Doch zuhause würde sie ihre Mutter erwarten. Und wenn sie ihr nicht wieder von den Abenteuern ihres Enkels aus dem Kindergarten berichten würde, dann würde sie wieder eine Schimpftirade über Luca von Pohl vom Stapel lassen, angefeuert von all dem, was seit Tagen die Klatschpresse füllte.

Nachdem ihr Vater sich öffentlich von Lucas Artikel über seinen Golffreund distanziert hatte, hatte die Moderatorin, mit der Luca sich einige Male im Barista hatte blicken lassen, mit ihr Schluss gemacht und ließ keine Gelegenheit aus, in der Öffentlichkeit gegen Luca zu sticheln. Angeblich hatte Luca gekündigt oder sie war gefeuert worden, je nachdem welche Zeitung man las und kaum ein Reporter schrieb einen Artikel, ohne Luca als verantwortungsloses Feierbiest aus einer wohlhabenden Familie darzustellen.

Hannah trank ihr Bier halbleer. Ihre Mutter hatte sie gefragt, ob Luca die Woche über im Café gewesen war, ob sie etwas gesagt hatte, ob sie wirklich bei ihrem Artikel geschludert hatte. Sie hatte kein gutes Haar an Luca und ihrer Familie gelassen. Hannah begann die Stühle im Café auf die Tische zu stellen. Luca war die ganze Woche über nicht im Café gewesen. Vielleicht würde sie morgen früh kommen.

„Kann es sein, dass du mehr über Luca nachdenkst, als über den Anruf von Marie?“, hatte Ingrid sie vorhin gefragt, bevor sie gegangen war. Hannah hatte keine Antwort auf die Frage gehabt und sie hatte sie immer noch nicht. Sie hatte Marie nach ihren Anrufen von gestern Abend und heute Morgen nicht zurückgerufen und sie wollte nicht darüber nachdenken, was Marie ihr nun nach Wochen der Funkstille zu sagen hatte. Es war leichter, über Luca nachzudenken.

Gerade als Hannah den letzten Stuhl hochstellen wollte, hörte sie in ihrem Rücken die Tür des Cafés aufgehen. Winterliche Luft drang an ihren Nacken. „Tut mir leid, wir haben schon ge-…“ Sie verstummte, als sie sich umwandte und sich geradewegs Luca gegenübersah.

Ihre blonden Haare waren nass, ihre Wangen und Ohren gerötet vor Kälte. Sie trug ihren Mantel offen und darunter nur eine Bluse, die ihr unordentlich aus der Hose hing. Ihre Augen waren glasig, als hätte sie zu viel getrunken. Und sie schien auf der Stelle stehend zu schwanken.

„Was machst du denn hier?“

„Ich glaube … Ich brauche … Hast du Kaffee?“

„Kaffee? Jetzt?“

„Ja ich kann sonst nicht fahren.“

„Und wo willst du hinfahren? Komm, setz dich.“ Hannah griff nach Lucas Arm und bugsierte sie auf den letzten Stuhl, den sie noch nicht mit der Sitzfläche voran auf den Tisch gestellt hatte.

„Zu meinem Vater. Ich muss … Ich habe Dinge mit ihm zu klären.“

„Du riechst nach Alkohol.“

„Deswegen ja der Kaffee. Hast du Kaffee?“

„Ich glaube, du solltest erstmal deinen Rausch ausschlafen, bevor du zu deinem Vater fährst.“

Luca schüttelte den Kopf. Hannah meinte, Tränen in ihren Augen glitzern zu sehen. „Nüchtern kann ich ihn nicht … Nüchtern kann ich nicht mit ihm reden“, nuschelte sie.

Hannah atmete tief durch, überlegte, was sie tun sollte, während Lucas Kinn auf ihre Brust sank, als wollte sie einschlafen. „Du solltest trotzdem erstmal nach Hause und schlafen.“

„Kann ich nicht einfach hier sitzen bleiben?“

„Du kannst doch nicht … Wo wohnst du denn?“

„Keine Ahnung.“ Luca zuckte mit den Schultern. Sie schloss ihre Augen.

„Na gut, komm hoch.“

 

Als Luca ihre Augen aufschlug, nahm sie zu allererst das Hämmern in ihrer Schädeldecke wahr. Ihre Zunge war trocken und pelzig, das gleißend helle Licht, das von irgendwo her an ihre Augen drang, schmerzte sie. Sie brauchte einige Momente, um zu realisieren, dass sie nicht wusste, wo sie war. Dann stellte sie fest, dass sie auf einer Couch lag, eine Decke war über sie geworfen und auf dem Couchtisch neben ihr, zischte eine Brausetablette in Wasser.

Leise Musik drang an ihre Ohren. Und es roch nach … Plätzchen.

Langsam setzte Luca sich auf und nahm den Raum war, in dem sie sich befand. Es war ein Wohnzimmer, durch dessen Fenster sie Schneeflocken erkennen konnte. Als sie der Musik und dem Duft folgte, fielen ihre Augen in die Küche. Dort stand Hannah, neben ihr ein Radio, und knetete einen Haufen Teig mit den Händen durch. Als sie sich umdrehte, um sich die mehlbedeckten Finger an einem Küchenhandtuch abzuputzen, trafen ihre Augen auf Lucas.

„Ausgeschlafen?“

Luca versuchte sich an einem schmerzhaften Nicken. Hannah trat ins Wohnzimmer und hielt ihr das Glas mit der aufgelösten Brausetablette hin. „Trink das. Dann geht es dir besser.“

Luca bezweifelte, dass das stimmte, doch die ersten Schlucke fühlten sich zumindest gut auf ihrer Zunge an.

„Kannst du mir kurz sagen, was genau …“, Hannahs Augen hielten sie fest, „Wie ich genau hierher komme?“

„Du bist gestern Abend in meinem Laden gekommen und wolltest, dass ich dir Kaffee mache, damit zu deinem Vater fahren und mit ihm darüber kannst, dass er dein Leben zerstört. Und du hast dich geweigert, mir zu sagen, wo genau du wohnst. Also habe ich dich irgendwann ins Auto gepackt und hier auf die Couch gelegt.“

„Oh Mann. War ich sehr schlimm?“

„Es ging. Marie … meine Ex-Freundin hat mir mal den Wagen vollgekotzt. Dagegen warst du brav.“

„Na immerhin.“

„Wo hast du dich denn so volllaufen lassen?“

„In einer Bar. Und dann auf dem Weihnachtsmarkt. Aber können … Lass uns bloß das Thema wechseln.“

Hannah sah zu, wie sie das Glas austrank. „Soll ich dich jetzt nach Hause fahren?“

„Das musst du nicht. Ich kann bestimmt … irgendwann wieder laufen. Außerdem sieht es aus, als wärst du beschäftigt.“

„Ich muss Plätzchen backen für einige Stände auf dem … du weißt schon. Das wollte ich eigentlich gestern schon, aber dann hatte ich alle Hände voll zu tun.“

„Das tut mir leid, ich … brauchst du Hilfe?“

Hannahs Augenbrauen sausten nach oben. „Beim Backen?“

„Wenn du mir eine Aufgabe gibst, wo mein Gehirn nicht allzu sehr gebraucht wird …“

„Du könntest das Ausstechen übernehmen.“

Luca quälte sich von der Couch. In ihrem Magen schwappte das Wasser gefährlich hin und her, doch nichts geschah. Hannah hatte recht behalten. Es ging ihr besser nach der Brausetablette. Schweigend machte Luca sich daran, den von Hannah ausgerollten Teig zu bearbeiten, während sie sich im Stillen immer wieder fragte, was sie nun tun sollte, nachdem sie bei ihrem Vater gekündigt hatte. Als sie das Blech in den Ofen geschoben hatten, fragte Hannah: „Möchtest du jetzt einen Kaffee?“

Luca nickte und ließ sich von Hannah eine Tasse frisch gebrühten Kaffee einschenken, in den sie einen Schuss Milch gab. Sie tranken im Stehen in der engen Küche. Über den Rand ihrer Tasse hinweg, sah Luca Hannah an.

„Wieso bist du eigentlich so?“

„Was?“

„So nett.“

Hannah stellte ihre Tasse ab, inspizierte den Ofen. „Ich hätte dich doch nicht einfach im Café sitzen lassen können. Und die Tablette und der Kaffee … Ich dachte, damit geht es dir besser, das ist alles.“ Ihre Wangen hatten rote Flecken bekommen, als sie sich wieder aufrichtete und Luca ansah. Luca grinste.

„Ich meinte nicht zu mir. Das bist du auch, aber ich meinte … Wieso machst du so viel für andere? Die Versorgung der Weihnachtsmarktstände, die Weihnachtsfeier des Fußballvereines … Glaubst du wirklich, die Menschen geben dir das zurück?“

„Darum geht es nicht.“

„Sondern?“

Hannah seufzte. „Mein Vater war so. Er hat immer gesagt, alles von uns vergeht, aber die Spuren, die wir in anderen Menschen hinterlassen bleiben. Er hat immer … mit vollem Herzen alles gegeben. Und ich versuche einfach nur, das auch zu tun, weil es sich richtig anfühlt. Auch wenn nicht alle Menschen das … verstehen.“

Luca sah sie an, ihre braunen Augen, ihr volles, schwarzes Haar. „Das ist bewundernswert. Du bist bewundernswert.“

Sie sahen sich an, in dieser engen Küche, in der sie eng zusammenstanden. Hannahs Augen senkten sich blinzelnd hinab auf ihre Lippen. Luca dachte nicht nach. Das Pochen in ihrem Kopf ebbe ab, als sie sich vorbeugte sie küsste. Für einen Moment verflogen ihre Kopfschmerzen, die Musik aus dem Radio verstummte. Sie schlang ihren Arm um Hannah, als eine Stimme ertönte.

„Hannah? Bist du da?“

Hannah sprang beinahe einen Schritt nach hinten, so plötzlich löste sie sich von Luca. Luca folgte ihrem Blick und sah einen Augenblick später eine Frau mit kinnlangen, blonden Haaren im Türrahmen zur Küche erscheinen.

„Hannah, ich … Oh.“ Ihr Blick flog von Hannah zu Luca. Sie zog ihre Augenbrauen nach oben.

„Was machst du denn hier?“

„Du reagierst nicht auf meine Anrufe.“

„Ich …“

„Können wir reden? Allein?“

Hannah sah zu Luca. Luca räusperte sich. „Ja, ich denke, ich sollte gehen. Danke für … Bis bald.“ Sie zwängte sich an der Frau vorbei, die sie beäugte. Luca fühlte jeden Schritt dumpf in ihrem Kopf, als sie ihren Mantel vom Sofa klaubte und langsam zur Tür ging. Ehe sie die Tür hinter sich schloss, hörte sie Hannah sagen: „Marie, was willst du hier?“

 

4.      Adventswochenende

„Was willst du damit sagen?“

„Dass ich Heiligabend nicht mit euch verbringen werde.“

Ihr Vater hatte seine Brille abgenommen und sich in den ausladenden Sessel hinter seinem Schreibtisch gesetzt. Die Düsternis jenseits seines Fensters hatte sich im gesamten Büro ausgebreitet. Seine Schreibtischlampe hatte Schatten auf sein Gesicht geworfen.

„Deiner Mutter wird das nicht gefallen.“

„Ich weiß.“

„Aber es ist dir egal?“

„Lass das doch. Du weißt genau, weshalb ich das tue.“ Luca hatte seinen Blick gesucht, doch er hatte bloß geseufzt.

„Ich weiß, dass du dich in irgendeiner Form verraten fühlst. Aber ich musste das tun.“

„Wie du meinst.“

„Werde nicht frech.“

„Erzähl du mir nichts von …“

„Luca, ich habe deine Kündigung zur Kenntnis genommen und ich habe zur Kenntnis genommen, dass du am Sonntag nicht bei uns sein wirst. Wir sollten es dabei belassen.“

„Wie du meinst.“ Luca hatte sich umgedreht.

„Und was hast du jetzt vor?“

Die Hand bereits an der Türklinke, hatte Luca zurückgeblickt. „Ich werde ein Buch schreiben.“

Für einen winzigen Augenblick hatte sie die Überraschung in seiner Miene gesehen. „Und worüber?“

„Das wirst du schon sehen.“

Sie hatte ihn mit diesem Rätsel sitzen lassen. Sie würde ihm nicht verraten, dass er in diesem Buch vorkommen würde. Er, ihre Mutter, das Familienunternehmen und sie.

Es hatte zu schneien begonnen, als sie das Haus ihrer Eltern verlassen hatte. Als sie das Barista erreichte, hatte sich das Schneetreiben verstärkt und eine Schneeschicht lag auf dem Bürgersteig davor. Schneeflocken sammelten sich in ihren Haaren, als sie durch das Fenster in das Café sah. Hannah stand hinter dem Tresen und sortierte mit konzentriertem Blick einige Zettel, ein Tisch war noch besetzt. Luca atmete noch einmal tief durch und trat dann ein.

Das Bimmeln der Türglocke ließ Hannah aufsehen. Die Bewegung ihrer Hände verharrte. Als Luca näherkam, senkte sie ihre Augen wieder auf die Zettel. Doch sie sortierte nicht weiter.

„Bekomme ich noch einen Kaffee?“

Hannah nickte. Sie entfernte sich ein paar Schritte, um ihre Maschine zu bedienen. Luca beobachtete sie. Die Frage, die sie seit Sonntag quälte, sprudelte an die Oberfläche, ehe sie darüber nachdenken konnte.

„Bist du jetzt wieder mit Marie zusammen?“

Hannah warf ihr einen kurzen Blick zu, während sie Milch aufschäumte. „Nein.“

Lucas Atem wurde tiefer. Sie wartete, bis Hannah ihr die Tasse vor die Nase auf den Tresen stellte.

„Wir … wir wollen morgen reden.“

Luca hob ihre Tasse an. „Und wann reden wir?“ Sie trank einen Schluck, beobachtete Hannah über den Rand ihrer Tasse.

Hannahs Augenbrauen hoben sich. „Du meinst, über …“

„Wir könnten einen Kaffee trinken gehen. Vielleicht woanders als hier. In einem Café wo du nicht arbeiten musst. Auch wenn der Kaffee dort natürlich nicht besser schmeckt.“

„Ich weiß nicht, ob das …“

„Eine gute Idee ist?“

„Du bist … deine Familie … und ich bin …“

„Eine bewundernswerte Frau.“

Hannah starrte sie an. „Ich glaube nicht, dass deine Familie das auch so sehen wird.“

„Was meine Familie denkt, interessiert mich nicht mehr. Hast du keine Zeitung gelesen?“

„Ja und ehrlich gesagt, möchte ich niemals etwas über mich in irgendeiner Zeitung lesen.“

„Aber …“

„Und nur weil du jetzt gerade Streit mit deiner Familie hast, heißt das nicht, dass das immer so bleibt.“

Luca rieb sich die Stirn. „Und deshalb willst du keinen Kaffee mit mir trinken? Wir müssen doch nicht gleich …“

„Ich bin keine von deinen Moderatorinnen. Ich …“

„Das weiß ich. Und das will ich auch gar nicht.“

„Können wir bezahlen?“ Die Frau am Tisch rief Hannah zu sich. Sie wandte ihren Blick von Luca und kam um den Tresen herum. Sie wechselte einige Worte mit den Gästen und schien es nicht eilig zu haben, zu Luca zurückzukehren. Luca leerte ihren Kaffee, bis die Gäste das Café verließen und Hannah mit dem benutzten Geschirr wieder hinter den Tresen kam. Sie wich ihren Blicken aus und verschwand in der Küche.

Luca legte Geld auf den Tresen. Hannah erschien im Türrahmen zur Küche und trocknete sich die Hände an einem Geschirrhandtuch.

„Du verdienst etwas Besseres als diese Marie.“

Sie spürte Hannahs Blick im Rücken, als sie das Café verließ.

 

„Ich hoffe, der Wein schmeckt dir.“ Marie schenkte Hannah etwas von dem Rotwein ein, ehe sie ihr eigenes Glas füllte. Sie saßen am Tisch in Hannahs kleiner Küche. Jenseits des Küchenfensters herrschte bereits Dunkelheit, im Licht einer nahen Straßenlaterne waren fallende Schneeflocken zu sehen. Seit dem gestrigen Abend schneite es wieder und wieder. Weiße Weihnachten standen unmittelbar bevor. Morgen war Heiligabend.

Sie stießen an. Hannah würgte einen kleinen Schluck herunter.

„Das Café ist jetzt zu?“

Hannah nickte.

„Und wann machst du es wieder auf? Lass mich raten, direkt nach Weihnachten? Nein? Also dann direkt im neuen Jahr?“

„Ich hätte es geschlossen.“ Hannah hielt ihren Blick auf den Tisch zwischen ihnen gerichtet.

„Was?“

„Ich hatte vor das Barista die ersten drei Wochen im neuen Jahr geschlossen zu lassen, um mit dir im Wohnmobil durch die Gegend zu reisen.“ Ihre zaghaften Worte waren die einzigen Geräusche, die die Stille in ihrer Wohnung durchbrachen. Von unten, aus der Wohnung ihrer Mutter war das gedämpfte Quietschen ihres Neffen zu hören. Sie würde morgen mit der Familie ihres Bruders und ihrer Mutter Weihnachten feiern. Zum ersten Mal seit Jahren. In den letzten Jahren hatten sie jeden Heiligabend bei Maries Familie verbracht. Hannah spürte bereits beim Gedanken daran, wie sich ihr Magen verkrampfte. Sie hörte noch die stummen Vorwürfe in den Worten von Maries Mutter am letzten Weihnachtsabend. Sie arbeitete zu lang, sie wäre nie um mit ihrer Tochter etwas zu unternehmen, die außer ihren Kundenterminen hauptsächlich von zuhause arbeiten konnte und regelmäßig um fünf Uhr Feierabend machte. Sie hatte es geglaubt.

„Wirklich? Das klingt traumhaft. Warum hast du denn nichts gesagt?“

„Ich wollte es dir sagen. Aber an dem Abend warst du … anderweitig beschäftigt.“

Sie hörte Marie tief durchatmen. „Hör mal, das war …“

„Was?“ Hannah sah auf. In Maries Miene spiegelte sich der scharfe Ton ihrer Frage wider.

„Ich … Du warst doch nur noch im Café. Ich habe Alexandra auf einige Veranstaltungen mitgenommen, auf die ich gerne gehen wollte. Und dann … Wir hatten zu viel getrunken. Wenn du da gewesen wärst, dann wäre wahrscheinlich nichts passiert.“

„Ist das dein Ernst?“

„Hannah, bitte.“ Marie wollte nach ihren Händen greifen, doch Hannah zog sie zurück.

„Du willst mir die Schuld geben? Heißt das, ich muss auf dich aufpassen, damit du nicht mit der nächstbesten ins Bett springst?“

„Nein, das soll nur heißen, dass wir eine Beziehung führen und es schön wäre, wenn du auch mal etwas mit mir unternimmst.“

„Und wie oft, hast du etwas mit mir unternommen? Wie oft hast du mich begleitet, wenn ich irgendwo einen Stand betreut habe? Wie oft bist du mit zu den Veranstaltungen von meinem Neffen? Du … Wie kannst du es wagen mir ein schlechtes Gewissen zu machen? Andere Leute bewundern mich für das was ich tue.“

Einen Augenblick herrschte Stille. Marie sah sie an. „Andere Leute? Meinst du etwa diese Journalistin? Diese Luca, die letzte Woche hier war und dir beim Backen geholfen hat?“

Hannah schwieg. Sie zuckte mit den Schultern. Doch sie kannte die Antwort.

„Glaubst du etwa … Läuft da etwas zwischen euch?“ Marie begann zu lachen. „Hannah, das ist doch nicht dein Ernst. Diese Frau würde sich doch niemals mit einer Cafébesitzerin abgeben.“

„Ich denke, du solltest jetzt gehen.“

„So habe ich das doch nicht gemeint. Die ist sich für so etwas doch viel zu gut. In ihrer Welt gibt es nur …“

„Geh jetzt.“

Marie sah sie an. Öffnete ihren Mund und schloss ihn wieder. „Morgen ist Heiligabend. Willst du den wirklich ohne mich verbringen?“ Sie lächelte. Sie lächelte auf diese Art und Weise, die Hannah in den letzten Wochen auf so vielen gemeinsamen Fotos von ihnen gesehen hatte. Doch wie schon in den letzten Wochen fragte sie sich, ob dieses Lächeln wirklich etwas zu bedeuten gehabt hatte.

„Ja. Und jetzt geh und nimm deinen Wein mit.“

 

Am Morgen des vierundzwanzigsten hatte es aufgehört zu schneien. Doch der in den letzten Tagen gefallene Schnee knirschte unter Hannahs Schritten, während sie in Richtung des schicken Wohnturms lief, der in der Stadtmitte in den wolkenverhangenen Himmel ragte. Ein eisiger Wind pfiff Hannah entgegen. Es waren nicht viele Menschen unterwegs, auf den verschneiten Straßen fuhren kaum Autos.

Es war still. Still genug, damit sie ihre eigenen Gedanken hören konnte. Sie hätte zuhause bleiben können, im Warmen, und ihrer Familie bei den Vorbereitungen für heute Abend helfen können. Ein ruhiges Weihnachtsfest mit ihrer Familie war alles, was sie sich nach den letzten Wochen wünschte. Und dennoch war sie hier.

Hannah blieb stehen. Der Wohnturm musste fünf Stockwerke umfangen, bereits die Balkon sahen teuer aus. Vielleicht hatte Marie doch recht. Vielleicht bildete sie sich das alles nur ein. Vielleicht war sie für Luca nur ein exotischer Zeitvertreib. Sie sollte nach Hause gehen. Doch gerade als Hannah sich abwenden wollte, öffnete sich die Eingangstür.

Und Luca trat hinaus in den Schnee. Sie stutzte, als sie sie erkannte. Dann begann sie zu lächeln und ging auf sie zu.

„Was machst du denn hier?“

„Ich wollte gerade gehen.“

„Oh.“

„Ich war nur spazieren.“

„Verstehe. Wie war dein Gespräch gestern mit Marie?“

„Es war … gar nichts.“ Hannah zuckte mit den Schultern.

„Und das heißt?“

„Das heißt, ich … Ich arbeite sehr viel. Ich muss früh im Café sein und lange bleiben und das ganze sieben Tage die Woche. Und das wird sich so schnell auch nicht ändern. Verstehst du?“

Luca sah sie an. „Ich denke schon.“

Einen Moment wurde es still zwischen ihnen.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Hannah schließlich.

„Ich wollte mir gerade einen Kaffee holen, bei dem Kaffeewagen im Park. Kommst du mit? Ich lade dich ein.“

Hannah nickte zaghaft. „Aber ich zahle selbst.“

Luca lächelte. „Wie du magst.“

 

Ihre Schritte hinterließen Fußabdrücke im festen Schnee, als sie Seite an Seite den Weg zum Park einschlugen.

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