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Geheimnisse

Ich fasse den Entschluss nicht bewusst. Es ist einfacher einer dieser Abende. Ich kann alle Folgen der Serie, die über den Fernseher flimmert, mitsprechen, das rhythmische Rattern der Spülmaschine dringt aus der Küche, hin und wieder klappert der Teller, den ich noch hineingequetscht habe. Die Bierdose balanciert auf meinem Oberschenkel, die Gedanken an den Arbeitstag morgen lungern bereits neben mir auf der Couch herum.

Wie mein Handy.

Meine Finger kennen den Weg. Den Weg zu deinem Profil. Es sieht aus wie immer. Keine Neuigkeiten, keine neuen Bilder. Als hätte sich nichts veränderst. Als würdest du noch dasselbe Leben führen, wie damals, als wir zuletzt gesprochen haben. Eine S-Bahn auf ihrer Strecke, routiniert, pflichtbewusst und gelegentlich etwas zu spät.

Du langweilst mich.

Aber wenn ich an die Lüge denke, die du lebst, pulsiert eine Energie durch mich, die ich kaum bändigen kann. Wenn ich daran denke, dass ich dein bestgehütetes Geheimnis bin, dann reise ich in der Zeit zurück, zu diesem Tag, als ich dich das erste Mal sah.

Es sollte passieren. Jeder Blickkontakt und jedes Lächeln war eine Verheißung. Du warst die Versuchung, der ich nicht widerstehen konnte. Ich schmecke noch immer deine Lippen, deine Haut, deine Haare, das Nikotin, dich. Ich kann dich heraufbeschwören, so sehr hast du alle meine Sinne verführt. Ich höre noch deine Stimme in meinem Ohr, als du sagtest, dass du mich liebst. Du warst alles, dem ich immer entsagt hatte. Du warst verboten. Du warst Leidenschaft, die die Zeit anhält, du warst Küsse, die ich brauchte, wie die Luft zum Atmen. Du warst Liebe im Auto, im Behandlungszimmer, in der leeren Wohnung. Du warst Hoffnung. Du warst eine heiße Sommernacht, in der die Musik nie endete, du warst der sinnlichste Rausch. Und du warst ein Winterabend vor dem Kamin. Du warst die einzige Decke, die ich brauchte. Du warst Musik in mir. Deine Hand war für meine geschaffen. Du warst die Gegenwart. Du warst die Zukunft. Du warst wie eine Sternschnuppe am Himmel. Ein wunderschöner Anblick, ein Versprechen. Magisch, wie Sternenstaub. Sie haben mich gewarnt. Wünsche gehen nicht in Erfüllung, wenn man sie ausspricht.

Aus der Erinnerung aufzutauchen, fühlt sich an wie zu erwachen. Mein Leben mit frischen Augen zu betrachten. Ein Dienstagabend auf der Couch. Der Tag hängt mir in den Knochen. Das Bier ist fast ausgetrunken. Ich lege mein Handy weg. Du bist wie ein Entzug. Ich frage mich, wie dein Abend aussieht. Er wird ähnlich sein und doch ganz anders.

Sie wird neben dir auf der Couch liegen. Sie weiß es. Sie hat dich blühen gesehen. Und es war nicht ihr Dünger, der dir Leben eingehaucht hat. Sie würde Umwege sehen, die du auf deinem Handy anklickst. Sie würde sehen, wenn du in Gedanken rückfällig wirst. Und ich weiß, dass du es tust. Wir sind noch da draußen in der Atmosphäre. Ich weiß, dass du uns spüren kannst.

Du langweilst mich. Dein kontrolliertes, kalkuliertes Ich, das nicht von mir berauscht ist. Das sich einredet, du wärst über mich hinweg, solange du mich nicht siehst und nichts von mir hörst. Du weichst mir aus, weil du nicht die Kontrolle verlieren willst.

 

Aber ich bin hier. Dein bestgehütetes Geheimnis. Die Wahrheit, die du verdrängst. Spürst du, wie ich an dich denke?

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