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Paradies

Ich muss dir etwas sagen.

Ich kann mich noch genau an den Augenblick erinnern, an dem ich sie zum ersten Mal sah. Es war in ihrer Praxis, die Sonne fiel durchs Fenster auf den Empfangstresen, ihr Kollege stand mit einer Patientin zwischen uns. Doch all das ist seltsam verschwommen in meiner Erinnerung und war es wohl auch damals in diesem Augenblick. Denn ich erinnere mich nur an das Lächeln, das sich über ihr Gesicht zog, als sie mich begrüßte. Ein Lächeln, das mir bereits alles verriet.

Sie führte mich ins Behandlungszimmer und drehte sich diskret zur Seite, als ich mein Oberteil auszog, um meine verletzte Schulter zu entblößen. In dieser ersten Behandlung war sie so vorsichtig beim Mobilisieren meiner Schulter, wie mit den Worten, die sie wählte. Von dieser ersten Behandlung an, schlich sie sich immer wieder in meine Gedanken. Ihre Berührungen hatten sich in mein Gedächtnis eingebrannt, hatten mich markiert.

Sie zuckte zusammen, als ich bei meiner dritten Behandlung unerwartet vor ihr stand. Meine bloße Anwesenheit machte sie nervös, ihre bloße Anwesenheit machte mich süchtig. Ich erzählte ihr, was ich beruflich machte, und bei meiner nächsten Behandlung wusste sie bereits von meinem leidenschaftlichen Interesse für die Malerei. Sie hatte meine Homepage entdeckt.

Bei meiner fünften Behandlung regte sie sich fürchterlich über einen vorherigen Patienten auf. Ich schenkte ihr eine kleine Schokopraline, die ich zufällig in der Tasche hatte und mit der Frage, ob sie sie ihm auch an den Kopf werfen könnte, brachte sie mich so sehr zum Lachen, dass ich die Schmerzen vergaß.

Vor meiner sechsten Behandlung war mir klar, dass sie viel zu pflichtbewusst wäre, mich, eine Patientin, nach meiner Nummer zu fragen. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte sie am Ende nach ihrer Nummer. Der Gedanke, sie nach Ablauf der Behandlung nicht wiederzusehen, jagte mir eine solche Angst ein, dass ich es einfach versuchen musste. Sie zögerte einen Moment, diesen verräterischen Moment, den sie mir später erklären sollte und gab mir dann ihre Nummer.

Ich muss dir etwas sagen.

Die Worte sind bereits beim Aufwachen in meinem Kopf und liegen schwer in meinem Magen. Dabei ist es wieder ein so herrlicher Tag, der über dem italienischen Küstenort beginnt. Die Sonne steigt an einem wolkenlosen Himmel empor, das sanfte Meeresrauschen dringt durch das offene Fenster. Die Luft ist bereits warm, irgendwo kreischen Möwen. An jedem anderen Morgen hätte ich mich auf das Frühstück auf der Terrasse mit Blick auf den noch leeren Strand gefreut und mich noch einmal in ihre Arme gedreht. Doch Paula ist schon aufgestanden. Vielleicht hat sie schon mit den Kindern gefrühstückt, die ihre Tante genauso vergöttern, wie sie die Kleinen vergöttert.

Mir wird übel. Ich möchte vergessen, was ich gestern Abend gehört habe. Ich muss dir etwas sagen. Mit der Frage, wie ich das anstellen soll, drehe ich mich langsam aus dem Bett.

Paula steht mit dem Rücken zu mir am Herd und brät Spiegeleier. In der Küche riecht es nach Kaffee. Ich rieche außerdem das Meer durch die offenstehende Terrassentür. Dieses Ferienhaus im Besitz von Paulas Familie steht auf einem wunderschönen Fleck Erde. Der Sommer ist hier zuhause, das Leben ist hier zuhause, das Essen weckt meine Sinne. Ich kann mich noch immer nicht sattsehen an der Natur und ich spüre einen schmerzhaften Stich, weil ich niemals in der Lage sein werde, sie so auf der Leinwand wiederzugeben, wie ich das gerne würde. Ich kann mich noch immer nicht sattsehen an Paula, auch wenn ich sie nie so malen kann, wie ich sie sehe.

„Du kommst genau richtig.“ Sie lädt die Spiegeleier auf zwei Teller und gibt mir einen Kuss. Hätte ich nicht gewusst, dass wir das Haus heute für uns haben, hätte es mir die Länge ihres Kusses jetzt verraten. Ihre Lippen wecken etwas in mir, dass sich in den letzten Tagen, auf engem Raum mit der Familie ihres Bruders, zurückgehalten hat. Wir gehen hinaus auf die Terrasse, wo Paula bereits den Tisch gedeckt hat. Obwohl mir immer noch schwer im Magen liegt, was ich ihr gestehen muss, bekomme ich Hunger beim Anblick all dessen, was sie aufgetischt hat.

„Wen erwartest du denn noch zum Frühstück?“

„Alles nur für dich. Die vier werden erst heute Abend wieder da sein.“

„Wohin sind sie heute nochmal unterwegs?“

„Erst im Kindermuseum und dann einkaufen. Und heute Abend wollen sie noch essen gehen. Die Frage ist also, was machen wir heute Schönes?“

„Worauf hast du denn Lust?“

Ich sehe das schüchterne Lächeln, dass sich auf ihren Lippen ausbreitet und spüre die magnetische Anziehungskraft, die von ihren wissenden Augen und ihrem Lächeln, ihrem gesamten Körper, ausgeht. Wie gerne würde ich diese Augen malen, die mich direkt in ihre Seele schauen lassen, und denen ich nie nah genug sein kann.

Ich muss dir etwas sagen. Vor ein paar Wochen saß ich nach der Arbeit mit einigen Kollegen in einer Bar und …

„Ehrlich gesagt, habe ich schon ein paar Ideen für heute.“

„Ach ja?“

„Lass dich überraschen.“ Aber was nach dem Frühstück passiert, ist nicht allzu überraschend. Der Frühstückstisch zwischen uns war mir zu viel Distanz zu ihr. Die Sehnsucht, die sich in den letzten Tagen aufgestaut hat, entlädt sich, als Paula mich nach dem Aufräumen der Küche in ihre Arme zieht und mich küsst. Ihr Geruch, ihre Berührungen, ihre Haare zwischen meinen Fingern. Ich kann nicht denken, ich sehe und schmecke die buntesten Farben. Sie füllt mein gesamtes Bewusstsein aus, während wir eng umschlungen zurück ins Schlafzimmer stolpern. Unsere Körper berühren sich beinahe lückenlos, nackte Haut auf nackter Haut, ein Gefühl, das meine Sinne explodieren lässt und dennoch möchte ich sie näher an mich ziehen. Als wir wieder zu Atem kommen, liegen wir Arm in Arm im Bett. Ganz allmählich, nehme ich die Umgebung wieder wahr. Ich höre wieder das Meer und die Möwen draußen.

„Ich bin froh, dass es mit meinem Bruder so unkompliziert läuft. Ich habe mit dem Schlimmsten gerechnet, so wie die beiden reagiert haben, als ich ihnen von der Trennung erzählt habe“, murmelt Paula und reißt mich schlagartig aus dem Bett, zurück in den gestrigen Abend. Sie hat bereits geschlafen, als ich noch einmal aufgestanden bin. Ich wollte mich in der lauen Sommernacht auf die Terrasse setzen und auf das dunkle Meer hinaus starren. Ich wollte nachdenken. In der Hoffnung mit den Wellen würden die Worte angespült werden, die ich brauche, um es Paula zu erklären. Ich hatte es an unserem ersten Tag hier sagen wollen.

Ihr Bruder und seine Familie hatten sich erst für den nächsten Mittag angekündigt. Wir saßen vor dem Grill auf der Terrasse. Die Hitze des Spätnachmittags hatten wir mit kaltem Bier bekämpft. Ich hatte den Anblick kaum genießen können, mein Herz hatte heftig gepocht. Gerade als ich meinen Mund geöffnet hatte, waren die Kinder überraschend auf die Terrasse gestürmt und waren Paula in die Arme gefallen. Ihre Augen haben vor Stolz geleuchtet, als sie mich als Doktorin der Biologie vorgestellt hat. Ich konnte es nicht. Aber ich wusste, dass ich es früher oder später tun muss. Ich habe es auf nach den Urlaub verschoben. Doch der gestrige Abend hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.

„Ich habe es dir gesagt.“ Es war die Stimme von Paulas Schwägerin, die mir von der Terrasse entgegenkam, als ich die Küche betreten hatte. Ich reckte den Hals und sah sie und Paulas Bruder im Kerzenschein bei einem Glas Wein am Tisch sitzen.

„Ich weiß nicht. Paula wirkt doch glücklich.“

„Ich bitte dich! Das ist doch kein Anfang für eine vernünftige Beziehung. Die beiden hatten eine Affäre. Die Kleine hat eine fünfzehn Jahre andauernde Beziehung zerstört.“ Die Kleine. Damit war ich gemeint. Der Altersunterschied zwischen Paula und mir war ihnen also doch mehr missfallen, als Paula geglaubt hatte.

Ich blieb in der dunklen Küche stehen und lauschte über das Klopfen meines Herzens in meinen Ohren.

„Niemand ist davor sicher, sich zu verlieben. Vergeben oder nicht.“

„Ich bitte dich. Sie hat es auf das Geld abgesehen, dass Paula und du bald erben werdet. Ihren Job hat sie ja bereits gekündigt.“

„Ich finde es nicht gut, dass du ihr hinterher schnüffelst. Das geht uns alles nichts an.“

„Ich habe nicht geschnüffelt. Meine neue Kollegin ist eben die Nachbarin von ihrer Chefin. Es war Zufall, dass ich von der Kündigung erfahren habe. Aber es ist sicherlich kein Zufall, dass Paula davon nichts weiß.“

Noch weiß sie es nicht.“

„In einer echten Beziehung bespricht man solche Entscheidungen doch vorher!“

Ich hatte meine Augen geschlossen, meine Hände hatten sich von selbst zu Fäusten geballt. Während der Pause, die die beiden eingelegt hatten, um von ihrem Wein zu nippen, wäre ich am liebsten auf die Terrasse gestürmt und hätte es ihnen erklärt. Wie seelenabtötend es sich für mich angefühlt hatte dorthin zur Arbeit zu gehen. Wie eingesperrt ich mich gefühlt hatte, während ich durch sterile Laborfenster draußen blauen Himmel und das Lichtspiel der Morgensonne beobachtet hatte. Farben, die mich zu Zeichnungen und Bildern inspiriert haben, die ich nicht zum Leben erwecken konnte. Mein achtstündiger, täglicher Aufenthalt im Gefängnis hatte mir jede Zeit und Energie dafür geraubt. Und beinahe hätte ich mich mit dieser täglichen Qual abgefunden – aber dann war Paula in mein Leben getreten. Und hatte für mich diese mutige Entscheidung getroffen, sich zu trennen, wieder richtig zu atmen im Leben.

Sie flutet mein Leben mit so viel Licht, das auch mein Herz wieder sehen kann. Liebe ist Kunst und seit Paula in meinem Leben ist, möchte ich mich mehr denn je ausdrücken. Ich möchte kein Leben im Schatten mehr führen.

Ich wollte auf die Terrasse stürmen und es beiden erklären, doch meine Füße haben sich nicht bewegt. Und dann hat ihr Bruder weitergesprochen. „Schatz, ich finde trotzdem, dass wir uns da nicht einmischen sollten. Meine Schwester war unglücklich. Vielleicht hat es diese Affäre für die Trennung gebraucht. Und was daraus wird …“

„Hast du es nicht bemerkt?“

„Was denn?“

„Wie die beiden sich angesehen haben, als wir von den Kindern erzählt haben? Sie ist noch jung genug. Mit Anfang dreißig hat sie noch ein paar Jahre, um Mutter zu werden.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Paula eigene …“

„Es wären doch genetisch nicht mal ihre Kinder.“

„Du tust so, als würde sie ihr Kinder unterschieben.“

„Du hast doch gerade selbst gesagt, dass du dir nicht vorstellen kannst, dass Paula Kinder will. Wenn sie welche will und Paula dazu überredet, dann hat sie ausgesorgt.“

„Ist das dein Ernst?“

Sie hatte geseufzt, als würde sie ihrem achtjährigen Sohn etwas erklären. Ich habe am ganzen Körper angefangen zu zittern vor Empörung. Doch kein Wort wollte aus meinem Mund kommen.

„Ich sage doch nur, dass deine Schwester bald eine sehr wohlhabende Frau sein wird. Du weißt, dass deine Mutter nicht mehr lange hat. Bisher vermacht sie einen beträchtlichen Anteil ihres Vermögens unseren Kindern, ihren echten Enkeln. Was ist, wenn die Kleine …“

„Was meine Mutter mit ihrem Geld macht, geht nur sie etwas an.“

„Aber das mit den beiden wird niemals halten. So realistisch muss man doch sein. Sie ist dreizehn Jahre jünger als Paula. Spätestens in ein paar Jahren wird sie sich eine Andere suchen, die ihrem Alter entspricht. Bis dahin darf Paula sie und ihr Malhobby aushalten. Und wenn sie die Kinder adoptiert … Du kennst deine Schwester. Sie ist zu gutherzig.“

„Mag sein, dass die beiden keine Zukunft haben. Aber das ist Paulas Entscheidung.“

„Schatz, bitte, sei einmal auf meiner Seite.“

„Was soll ich denn sagen?“

„Hilf mir, deine Schwester zur Vernunft zu bringen. Das Geld deiner Mutter sollte in der Familie bleiben.“

Ihr Bruder hatte gelacht. „Sie ist verliebt.“

„Aber wir können sie zur Vernunft bringen. Wir können ihr sagen, dass sie keinen Kontakt mehr zu den Kindern haben wird, wenn sie diese Beziehung weiterführen will.“

Ich hatte für einen Moment geglaubt in Ohnmacht zu fallen. Ich hatte nach Luft geschnappt, unfähig zu begreifen, weshalb sie mich so sehr ablehnten. Ich hatte mich nie für den Reichtum in Paulas Familie interessiert. Ich hatte nie – …

„Bist du wahnsinnig? Die beiden lieben Paula!“

„Und vielleicht verstehen sie sich dann auch mit ihren sogenannten Cousins oder Cousinen gut, aber wenn die Beziehung zerbricht, stehen sie da. Außerdem sind das nicht mal echte …“

Ich hatte mich abgewandt. Ich hatte kein Wort mehr ertragen können.

Paula holt mich zurück in die Gegenwart als sie sich auf ihren Ellbogen stützt und ihr Gesicht nah über meines bringt. Sie lächelt und gleichzeitig liegt in ihren Augen etwas Unruhiges. Dieser prüfende Blick, mit dem sie mich so oft betrachtet hat, bevor sie sich getrennt hat. Bevor sie einen Mut bewies, der mich immer beeindrucken wird. Einen Mut, den ich dank ihr auch hatte, als ich meinen Job gekündigt habe. Das ist der Ansatz, den ich brauche, um ihr endlich zu sagen, was ich sagen muss.

Doch Paula beginnt zu flüstern, ehe ich den Mund aufmachen kann.

„Eigentlich hatte ich das alles anders geplant, aber ich … ich will es jetzt tun.“ Sie holt tief Luft und beugt dann ihren Kopf zu mir herunter, um ihre Lippen direkt an mein Ohr zu bringen.

„Willst du mich heiraten?“

Die Worte fließen über meinen Körper wie ein warmes Bad, die Vögel haben nie schöner gesungen, die Meeresbrise war nie belebender. Überhaupt fühle ich mich plötzlich so lebendig, als hätte ich zum ersten Mal um mich herum bewusst die Farben und die Formen der Wolken wahrgenommen.

Ich habe mir nie vorgestellt, wie ich diese Frage hören wollen würde. Aber so wie Paula es getan hat, ist es perfekt.

Meine Arme schließen sich um sie, halten sie fest. Jede Faser meines Körpers will Ja sagen. Aber die Worte ihrer Schwägerin und ihres Bruders rasen durch meinen Kopf und drücken mir die Kehle zu. Sie werden das nicht wollen, sie werden das nicht akzeptieren. Sie werden die Kleinen von Paula fernhalten. Mein Herz rast, das Schweigen dauert nun zu lange.

Paula hebt ihren Kopf und sieht mich an. Angst flackert in ihren bernsteinfarbenen Augen.

 

„Ich muss dir etwas sagen.“

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