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Einer sieht alles - Teil 1

Die Leiche wurde an einem Freitagmorgen um 7.05 Uhr gefunden. Sie lag in der unter­irdischen Garage eines edlen Apartmenthauses in der Innenstadt, auf dem leeren Park­platz, der zu einer Wohnung im dritten Stock gehörte: 3B. Der Name des Toten war Mark Hilger, wohnhaft in 2B, ein fünfzigjähriger Mann mit Glatze und Bierbauch. Er wurde alle Viere von sich gestreckt auf dem ölverschmierten Asphalt gefunden, die Kehle aufgeschlitzt und mehrere Stichwunden im Brustkorb. Vertrocknetes Blut verzierte sein Hemd und blutige Wischspuren am Boden wiesen darauf hin, dass er gezogen worden war, auf genau diesen Parkplatz. Eine erste Untersuchung ergab, dass Mark Hilger bereits einige Stunden tot sein musste, wahrscheinlich war er zwischen 19 und 23 Uhr des Vorabends erstochen worden. Zum exklusiven Sicherheitssystem des Apartmenthauses gehörte, dass sich die Türen von 20 Uhr abends bis 8 Uhr morgens nur noch mit einem Code öffnen ließen, der nur den Hausbewohnern bekannt war. Daraus schlossen die Kommissare, dass der Mörder entweder aus dem Haus gekommen oder der Gast eines Bewohners gewesen war. Der Hausmeister Enrico Marquez, der die Leiche zu seinem Dienstantritt gefunden hatte, gab an, dass Mark Hilger allein und eher zurückgezogen gelebt hatte. Er war Privat­detektiv gewesen und habe nicht viel Kontakt mit den Bewohnern gehabt. Überhaupt hätten die sechs Parteien in diesem Haus kaum mit­einander zu tun. Ihm war zumindest nichts Derartiges aufgefallen. Die Kommissare Schmitt und Heyer begannen um 7:45 Uhr an den Türen im Haus zu klingeln, die Bewohner am frühen Morgen mit ihren Fragen zu konfrontieren.

 

1 A - Dr. Friedrich Senger

 

„Ich habe ein wichtiges Meeting mit einem hoffentlich zukünftigen Geschäftspartner und ich habe keine Lust, es noch weiter nach hinten zu verschieben.“ Er trug einen blauen Anzug, seine Schläfen ergrauten und er wippte ungeduldig mit dem Aktenkoffer in seiner Hand. Die Kommissare tauschten wortlos einen Blick.

„Wie haben Sie den gestrigen Abend verbracht?“, fragte Kommissarin Heyer.

„Ach Herrgott, das kann nicht Ihr Ernst sein“, murmelte Dr. Senger und ließ sich auf dem Sofa nieder. „Ich kam um sieben aus dem Büro, habe dann an einer Onlinekonferenz in den USA teilgenommen und bin gegen elf ins Bett ge­gangen. Ich hatte ja heute früh einen Termin.“

„Gibt es Zeugen dafür, dass sie um elf Uhr ins Bett sind?“

„Sieht es danach aus? Hören Sie, ich bin In­vestmentbanker und kein Mörder.“ Seine Wohnung war beinahe klinisch sauber, wie die Kommissare mit wenigen Blicken feststellten.

„Haben Sie im Treppenhaus etwas gehört?“

„Nein, ich schlafe mit Watte in den Ohren.“

„Kannten Sie Mark Hilger näher? Können Sie uns etwas darüber sagen, wie er mit den anderen Bewohnern im Haus klargekommen ist?“, wollte Kommissarin Heyer wissen.

Friedrich Senger seufzte theatralisch. „Nein und Nein.“

„Wir wissen, dass Herr Hilger früher Privatdetektiv war. Hat er sich im Haus vielleicht übermäßig für die Nachbarn, die Müllto­nnen, das Parken auf der Straße inter­essiert? Wir werden seine Wohnung durchsuchen, also wenn dem so war, werden wir etwas finden.“

Dr. Senger kratzte sich am Kopf. „Es könnte sein, dass er den beiden Brüdern genauer auf die Finger geschaut hat. Da standen ständig Autos ohne Nummernschilder auf ihrem Parkplatz in der Garage. Immer andere. Letzte Woche habe ich ihn nach der Arbeit da unten rumschleichen sehen.“

„Was waren das für Autos?“

„Ich bitte Sie, ich habe doch keine Zeit für so etwas. Außerdem waren diese Autos meistens von einer Plane halb abgedeckt. Aber sie sahen schnell aus, wenn Sie unbedingt etwas hören wollen.“

 

1 B-Valerie Bironi/Theresa Maurer

 

Valerie Bironi öffnete ihnen die Tür in Bademantel und mit einer Teetasse in der Hand. Sie gab an krank zu sein. Die Kommissare bemerkten eine leere Flasche Sekt und zwei Gläser in der Küche. „Hatten Sie gestern Abend etwas zu feiern?“

„Nein. Dann doch nicht.“ Die Frau setzte sich und rieb sich die Schläfen. Sie gab an, das Opfer aus dem zweiten Stock nicht sonderlich zu kennen. Sie hatte nie näher mit ihm zu tun gehabt, aber sie hätte ihn vor einigen Tagen im Flur streiten hören, mit dem verheirateten Mann aus dem dritten Stock. Sie hatte aber nicht gehört, worum es gegangen war, sie habe kein Interesse daran, ihre Nachbarn aus­zuhorchen.

„Was haben Sie gestern Abend gemacht?“ Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Fragen Sie mich, ob ich ein Alibi habe?“

„Ja.“ Valerie Bironi atmete tief durch. „Ich habe den Abend mit meiner Freundin ver­bracht, bis ca. neun. Dann ist sie gegangen und ich habe noch mit meiner Schwester tele­foniert. Gegen Mitternacht bin ich eingeschlafen.“

„Ist Ihre Freundin die Dame auf der Klingel?“, fragte Kommissar Schmitt und erntete ein Nicken.

„Wo ist sie jetzt?“

„Das weiß ich nicht. Seit sie gestern die Wohnung verlassen hat, habe ich nichts von ihr gehört.“ „Hatten Sie Streit?“

„Ich glaube nicht, dass das etwas mit ihren Ermittlungen zu tun hat.“

„Hatte sie Probleme mit Herrn Hilger?“, fragte Kommissarin Heyer, konnte ihren Satz allerdings kaum zuende sprechen.

„Nein.“

„Wir müssen sie trotzdem sprechen. Sagen Sie ihr bitte, sie soll sich bei uns melden.“ Die Kommissarin reichte ihr eine Visitenkarte.

„Sie hat damit genauso wenig zu tun wie ich! Fragen Sie den Mann von oben, der sich mit ihm gestritten hat!“

 

2A-Familie Braun

 

„Timmy, ich habe gesagt, du sollst zu Juanita und deiner Schwester gehen.“ Stephan Braun hob seinen kleinen Sohn, der sich an seinem Bein festgeklemmt hatte, hoch und übergab ihn einer jungen Frau, die im Türrahmen zum Wohnzimmer erschien. Offensichtlich das Kindermädchen. Dann setzte er sich wieder neben seine Frau auf das Sofa.

„Es geht um den Toten in der Garage?“

„Kannten Sie Mark Hilger näher?“ Seine Frau Denise schüttelte mit dem Kopf, doch er schnaubte. „Jeder im Haus kannte ihn als den Schnüffler. Er hat sich immer in Sachen eingemischt, die ihn nichts angehen. Wer verdreckt das Treppen­haus, wer überlädt die Mülltonnen? Er war eine Nervensäge.“ „Stephan!“

„Ist doch so.“ „Gab es jemanden, der ernste Streitereien mit ihm hatte?“

„Nein.“

„Natürlich, Schatz.“ Stephan Braun sah seine Frau verwundert an. „Gerade erst vor wenigen Tagen. Ich weiß nicht, worum es ging, aber ich habe ihn draußen mit einer der Frauen von unten gesehen. Theresa. Sie hat ihn angeschrien und ich glaube er hat ihr ein Kuvert in die Hand gedrückt. Und mit den Brüdern von oben gab es neulich auch Schreierei im Treppenhaus.“

„Haben Sie mitbekommen worum es da ging?“, fragte Kommissar Schmitt.

„Bei den Brüdern ging es mit Sicherheit um die ständig wechs­elnden Autos unten. Und bei der Frau, habe ich ihn mir immer wieder etwas von der Wahrheit sagen hören.“

„Ist Ihnen auch etwas aufgefallen?“ Kommissarin Heyer beäugte die Frau. Sie schien kaum Blickkontakt halten zu können und mehr und mehr in sich zusammen zu sinken. „Ich habe ihn am Wochenende mal mit Dr. Senger von unten diskutieren hören. Aber ich weiß nicht, worum es da ging. Es war sicher nichts Schlimmes.“

 

„Was ist mit Ihnen beiden? Hatten Sie Probleme mit ihm?“ Die Brauns schüttelten den Kopf. Er gab an, gestern Abend mit den Kindern allein gewesen zu sein, während sie einige ältere Gemeindemitglieder im Kranken­haus besucht hatte. Die Kommissare ließen sich die Namen geben und gingen die Treppe hinauf in den obersten Stock.

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