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In Schutt und Asche

Das Unwetter hatte sich seit dem frühen Nachmittag angekündigt. Die Bäume, die die Zufahrt zur Villa säumten, hatten sich mit jeder Stunde im aufkommenden Sturm mehr gebogen, wie durchgeschüttelt und zur Seite gedrückt von unsichtbarer Hand. Aus allen Richtungen waren dunkelgraue Wolken über die Felder gerollt, die die Villa umgaben. Wolken, die sich bei ihrem Zusammenschluss noch mehr verdunkelten, Grimassen zogen, mit den Muskeln spielten.

Der Regen setzte ein, als der Klein­transporter das Tor zur Auffahrt der Villa passiert hatte und der gewundenen Straße zum Eingang folgte. Die Fahrerin stellte die Scheibenwischer auf volle Stärke, um Sturzbäche von der Scheibe zu schaufeln. Auch ihre Augen hätten Scheibenwischer gebraucht, vor nicht einmal zehn Minuten. Doch ihre Tränen waren versiegt. Sie war bereit. Sie stoppte den Wagen vor den Treppen, die zur imposanten Eingangstür führten. Wie konnte ein Mensch allein in so einem Palast leben? Doch die Antwort auf diese Frage interessierte sie nur halb so sehr wie die Tatsache, dass bei dieser Fragestellung bald die Vergangenheitsform angebracht sein würde.

Pia Horn griff nach ihm Werkzeugkoffer, holte noch einmal tief Luft und stieg dann aus.

 

In dem Augenblick, in dem Charlotte „Charly“ Fürstner die Eingangstür öffnete, zuckte ein Blitz über den Himmel und erhellte die Szenerie für einen Wimpernschlag derart, dass es blendete. Charly kniff ihre Augen zusammen.

„Kommen Sie herein. Ich dachte schon, das Wetter...“ Die Tür fiel bereits ins Schloss, als Charly die Frau vor sich erkannte. Just in dem Moment als ein ohrenbetäubender Donner den Boden erzittern ließ.

„Sie sind unsere Heldin!“ Es war die Stimme von Charlys Lebensgefährtin, die die Haupttreppe hinabschwebte. Mit wehenden blonden Haaren stöckelte sie in ihrem Hosenanzug auf die Frau zu. „Ich bin Vanessa Mollusk oder wie Charly mich bei unserer ersten Begegnung genannt hat: Die aus dem Frühstücksfernsehen.“ Vanessa lachte als Einzige über diesen Witz. Wie immer. Sie schlang ihren Arm um Charlys Taille und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. Charly spürte, wie sie bei der Berührung versteifte.

„Aber ich bevor­zuge: Die aus den Morgennachrichten.“ Die Frau von der Küchenfirma, Pia Horn, schien sich zu einem Lächeln durchzuringen, während ihr Blick über die hohen Wände glitt, Wände, die übersät waren mit Bildern von Vanessa, die Persönlichkeiten aus Sport, Politik und Kultur die Hände schüttelte. Alles Menschen, die sie interviewt hatte. Während ihre Haltung, ihr Lächeln und der Ausdruck in ihren Augen problemlos von einem Bild zum anderen übertragbar wäre, hatten ihre Interviewpartner nichts gemein.

Charlys Augen fielen zu dem Bild von Vanessa und ihr. Sie wusste noch genau, was sie gedacht hatte, als sie sich für das Foto die Hände geschüttelt hatten. Und sie sah es in ihrem Gesichtsausdruck auf dem Foto. Ein Blitz draußen erhellte Vanessa Antlitz' auf den Bildern, ehe es sich wieder verdüsterte und in der Finsternis des Unwetters undurchdringlich auf Charly hinabblickte. Das Prasseln des Regens nahm zu, mischte sich in das Tosen des Windes.

„Jedenfalls sind wir wahnsinnig begeistert davon, dass sie sich in diesem Wetter hier hinausgewagt haben. Normalerweise schätzen wir diese Abgeschiedenheit hier sehr. Sie wissen ja sicher, dass Charly als Autorin und Zeichnerin ihr Geld verdient, oder? Charly gibt Ihnen zum Dank gerne signierte Zeichnungen mit. Ich denke, das steht heute ganz oben auf der Liste. Nicht wahr, Liebes?“ Vanessa ließ von Charly ab und begann die Frau in Richtung Küche zu bugsieren, deren Augen immer wieder an Charly hängen blieben.

„Wir haben vor Wochen begonnen, die Küche zu renovieren und auch gleich angefangen alles Alte rauszuschmeißen. Manchmal ist das einfach nötig. Und dann stellt sich heraus, dass das alles Spezialanfertigungen waren. Kein Wunder in diesem alten Gemäuer. Wir ernähren uns seit Wochen... Erhören Sie uns... etwas brauchen...“ Vanessas Stimme verhallte, genau wie die Schritte der beiden Frauen, als sie um die Ecke des weitläufigen Flurs bogen. Charly hörte die Tür ins Schloss fallen. Ein tiefes Donnergrollen brachte die Erde zum Beben. Charly stand noch immer reglos neben der Tür. In ihrem Kopf schwirrte es. Sie hatte es in den Augen der Frau gesehen. Sie wusste es. Und Charly glaubte schon lange nicht mehr an Zufälle.

Charly eilte ins Schlafzimmer im zweiten Stock. Es blitzte und donnerte unablässig, während sie die Ziffern ins Telefon schlug und dabei vor dem Himmelbett auf- und ablief.

„Du wolltest doch nicht mehr anrufen.“ Ihre Stimme klang weder trotzig noch überrascht. Es war eine nüchterne Feststellung.

„Was macht Pia hier?“ Charly hörte die Aufregung in ihrer eigenen Stimme.

„Was macht Pia wo?“

„Sie ist hier im Haus. Bei uns.“

Stille.

„Sie... Warum sollte sie? Was...“

„Sie nimmt die Maße für die neue Küche, die Vanessa bestellt hat.“ Der Wind heulte durch ihr Schweigen. Vielleicht waren es die Worte neue Küche und Vanessa. Vielleicht waren es die Implikationen dieser Wörter.

„Hör zu, ich wollte diese Küche nicht. Sie macht Dinge, die...“

„Das spielt jetzt ja wohl keine Rolle mehr.“ Es blitzte. Charly zählte die Sekunden bis zum Donnerschlag. Erst danach sprach sie wieder.

„Hat sie dir gesagt, dass sie heute hier rausfährt?“

„Nein. Sie hat nichts gesagt.“

„Ich denke sie weiß es.“

„Sie kann es nicht wissen. Woher denn?“ Charly sah ein Grinsen vor ihrem inneren Auge.

„Ich befürchte... Hallo?“ Schlagartig herrschte Stille.

Charly wählte erneut, doch die Leitung war tot.

 

„Mit wem telefonierst du denn?“ Sie hatte Vanessa nicht kommen gehört. Das Unwetter draußen erhellte ihre Umrisse in der Diele.

„Mit niemandem. Die Leitung ist tot.“

„Das muss der Sturm draußen sein.“ Vanessa ließ sie nicht aus den Augen. Charly stellte das Telefon wieder ab, und sank auf das Bett.

„Du hast mit ihr ge­sprochen, oder?“

„Es gibt keine ihr.“ Vanessa schnaubte. „Verkauf mich nicht für dumm. Ich lasse mich von dir nicht in der Öffentlichkeit bloßstellen.“ Sie stapfte wieder hinaus, das Zuschlagen der Tür ging im prasselnden Regen jenseits der Fenster unter. Vanessas Parfüm hing noch im Raum und dann schnappten ihre Worte zu, drangen erneut in Charly Gehirn ein.

Die Zeichnung! Sie sprang auf und schlich aus dem Zimmer. Am Ende des Flurs befand sich ihr Atelier. Die Farbdämpfe pochten ihr in den Schläfen, als sie an ihren Zeichentisch stolperte und die Schublade aufriss. Die Schublade, in der sich eine zusammengerollte Zeichnung befinden sollte. Doch zu ihrem Entsetzen war die Schublade leer. Das Porträt von ihr war verschwunden. Gerade als Charly ihre Hand aus der leeren Schublade zog und das Hämmern ihres Herzens wahrnahm ging mit einem lauten Klicken das Licht im Zimmer aus. Sie drückte wiederholt auf den Lichtschalter, doch die Lampe blieb aus. Charly trat in den Flur, wo die Lampen ebenfalls dunkel blieben. Der Strom war weg. Die einzige Beleuchtung brachten die am düsteren Himmel draußen leuchtenden Blitze. Charly schlucke. Irgendetwas ging hier vor.

 

Das dringendste Problem, was es zu lösen galt, war das Licht. Gerade als Charly aus ihrer Nachttischschublade die Taschenlampe geholt hatte, ertönte ein Klirren im Flur.

„Vanessa?“ rufend lief Charly in Richtung Treppe. Sturzbäche aus Regen fluteten die Scheiben, der Wind peitschte die Wolken an und bog die Baumkronen. Doch es klirrte und schepperte noch immer. Charly entschied sich in die Küche zu gehen. Mit Sicherheit überwachte Vanessa die Arbeiten dort. Als in das Erdgeschoss erreicht hatte, sah sie die Ursache für das Klirren. Eines der Bilder war von der Wand gefallen, das Glas gesprungen. An als Charly den Bilderrahmen umdrehte, spürte sie einen eiskalten Schauer ihren Nachen hinablaufen. Es war das Bild von Vanessa und ihr. Nur war ein Messer benutzt wurden, um ihr die Augen auszukratzen. Ihr Puls hämmerte in ihren Schläfen, ihr Mund wurde trocken. Sie stürmte in die Küche und sah, was sie erwartet hatte. Niemanden. Ihr Atem kam stoßweise. Über das Poltern eines Donners meinte sie Schritte im Keller zu vernehmen. Sie eilte zur angrenzenden Kellertür und ging zögerlich die schmalen Stufen hinab. Der Sturm war hier unten anders, dumpfer. Durch das Dröhnen in ihrem Kopf drang allerdings kaum noch ein Geräusch durch. Sie roch modrige Feuchtigkeit, meinte die Waschmaschine rumpeln zu hören. Im schwankenden Lichtkegel ihrer Taschenlampe kam der Öltank in Sicht. Und eine seltsame kleine Apparatur, die daran klebte und rot blinkte. Charly erstarrte, als sie eine leuchtende Sekundenanzeige rückwärtslaufen sah. Sie ließ die Taschenlampe fallen und rannte los.

 

„Na los, geben Sie Gas!“ Vanessa warf sich auf den Beifahrersitz des Kleintransporters und knallte ihre Tür zu. Selbst nach nur wenigen Metern war sie vollkommen durchnässt. Pias Hände glänzten vor Nässe, als sie den Zündschlüssel drehte. Der Wagen stotterte, ehe er ansprang.

„Das Ding geht gleich hoch! Und ich werde weder als Todesopfer noch als Betrogene der Aufmacher meiner eigenen Sendung sein! Machen Sie schon!“, schrie Vanessa. Pia gab Gas, drehte und schoss auf das offene Tor zu. Doch kurz bevor sie das Tor passieren wollten, schlug ein Blitz krachend in den ersten Baum ein, der die Zufahrtsstraße säumte. Der Stamm neigte sich und knickte um.

Innerhalb weniger Se­kunden brach er auf die Straße und blockierte sie. Pin blieb nichts anderes übrig als eine Vollbremsung einzulegen.

 

„Wir sind zu nah dran! Die Bombe...“, brüllte sie, doch eine ohrenbetäubende Explosion hinter ihr, brachte sie zum Verstummen. Sie drehten sich um, sahen den Feuerball, der das Haus aufzufressen schien, spürte die Druckwelle, die näherkam und waren machtlos, als sie spürten, wie das Auto in die Luft gerissen wurde.

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