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Der Nachbar

Es war einer der heißesten Sommer, die die Stadt je erlebt hatte. Wer konnte, war mit den Kindern aufs Land gefahren oder ans Meer geflohen. Doch für Ruben Clee war das keine Option. Er hatte weder ein Auto noch Kinder, seine Frau hatte ihn vor Jahren verlassen. Er hatte niemanden, mit dem er verreisen könnte. Und er bevorzugte es so. Schließlich wusste er sehr gut, wie gefährlich Menschen waren.

Ihre Überzeugungen, ihre Worte und Handlungen konnten ganze Leben in die falsche Richtung lenken, verletzen und sogar töten und die ganze Welt ins Chaos stürzen. Niemand wusste das besser als Ruben. Er hatte mehr vom Leben gewollt, als die Wohnung seiner Eltern zu erben und sein Dasein für den Rest seines Lebens in der Straße zu fristen, in der er aufgewachsen war. Die Kinder, mit denen er damals Blechbüchsen über den Asphalt gekickt hatte, hatten die Stadt vor Jahrzehnten verlassen. Die Geschäfte in der Straße hatten sich verändert. Der Waschsalon war einer Nudelbar gewichen, die Bibliothek einem Fitnesscenter und der Obstladen an der Ecke einem Friseursalon. Die U-Bahnstation hieß jetzt anders. Alles hier hatte sich verändert.

Doch er war zum Stillstand verdammt gewesen.

Er hatte Talent gehabt. An der Universität hatte er seinen Abschluss in Kunst gemacht und in einer Galerie seine Gemälde ausstellen dürfen. Er war damals förmlich nach Hause geschwebt, getragen von all den Möglichkeiten, die das Leben für ihn bereithielt. Geld, Reisen, Kunst, Anerkennung. Aber sein Vater hatte andere Pläne für ihn gehabt. Ruben hatte seinen Laden weiterführen sollen, eine Schreinerei, die er von seinem eigenen Vater geerbt hatte. Er hatte etwas ordentliches machen sollen. Er hatte mal für eine Familie sorgen sollen. Ruben hatte gehorcht. Er hatte Ellen im Gottesdienst kennengelernt. Ihre und seine Eltern hatten die Hochzeit befürwortet. Sie war ebenfalls in die Schreinerei eingestiegen. Und sie hatte ihn daran gehindert, seine Leidenschaft weiter zu verfolgen. Sie hatte über ihn und seine Malerei gelacht, sie hatte ihm sein Talent abgesprochen. Und jetzt war er ein alter Mann, der das Leben der anderen durch sein Fenster verfolgte, in der Straße, in der er zum Leben verdammt worden war.

An diesem glühend heißen Samstagnachmittag hatte ihn das Geschrei und das Türenknallen in der Wohnung gegenüber an sein Küchenfenster getrieben. Durch die kleinen Vorhänge sah er das Ehepaar, das vor einigen Monaten neben ihm im Erdgeschoss eingezogen war auf die Straße gehen. Die beiden konnten noch keine 40 sein, jung genug, um Träume zu haben. Der Mann hieß Eric, er war Journalist oder etwas in der Art, ein schrecklich neugieriges Geschöpf. Ein paar Mal hatte er nach Mehl und Eiern bei Ruben gebeten und sich den Hals verrenkt, um einen Blick in den Flur zu erlangen. Jetzt warf er seine Golfschläger in den Kofferraum des SUVs, der direkt vor der Tür am Straßenrand geparkt war.

„Hör endlich auf mit deinem Geschrei! Sie ist eine Kollegin von mir und wir haben nur etwas getrunken! Das war alles!“

„So wie mit der Blonden letzten Monat?“ Seine Frau hatte lange rotblonde Haare, ihr Name war Jessica und ihre Stimme schrill. Ruben wusste, dass sie als Erzieherin im Kindergarten arbeitete und sich selbst Kinder wünschte. Ruben hatte sie mit Freundinnen telefonieren gehört, wobei sie sich wieder und wieder darüber beschwert hatte, dass Eric fand, es sei noch zu früh.

„Du bist vollkommen paranoid! Wenn ich vor der Hochzeit gewusst hätte, dass du mich kontrollierst wie eine...“

„Dann hättest du mich nicht geheiratet? Pech für dich, mein Lieber! Na los, reich doch die Scheidung an! Ich werde dich schröpfen, wie...“

„Du wirst keinen Cent von meinem Geld sehen! Und du wirst keinen weiteren Cent für irgendwelche Schönheitsfarmen ausgeben!“

„Du fährst doch gerade wieder auf ein Golfwochenende! Welche Schlampe willst du denn da vögeln?“ „Hauptsache nicht dich!“ Eric warf seine Autotür zu und startete den Wagen. Jessica weinte, als sie sich umdrehte, um zurück ins Haus zu gehen. Dabei fiel ihr Blick auf Ruben hinter seinem Küchenfenster. Sie zeigte ihm den Mittelfinger, ehe sie wieder ins Haus ging.

Der Stromausfall begann etwa zwei Stunden später. Ruben saß auf seiner kleinen Terrasse und malte zu den Klängen des Radios. Die Klänge der unter der Hitze ätzenden Stadt mischten sich mit der Musik. Dann wurde das Radio schlagartig still und das tiefe Brummen der Tiefkühltruhe erstarb. Von den Straßen wurde Hupen laut und entnervte Stimmen seiner Nachbarn hallten nach unten. Seufzend erhob Ruhm sich und überprüfte den Vorrat an Eisbeuteln für die Gefriertruhe. Falls der Stromausfall länger anhalten sollte, brauchte er Nachschub.

So schleppte Ruben sich durch die heißen Straßen zum Kiosk zwei Ecken weiter. Die Leute kannten ihn natürlich, wussten, dass er bei jedem Stromaus­fall kam, um Eisbeutel zu holen. Ruben sah ausgefallene Ampeln, hörte Beschwerden über stillstehende Klimaanlagen und wusste, dass ein lauter Abend vor ihm lag. Mit Einbruch der Dunkelheit wurde es voller vor Rubens Küchenfenster auf der Straße. Die Nachbarschaft versammelte sich schwitzend, mit Weingläsern in den Händen an der frischen Luft.

Ruben kannte die meisten vom Sehen, wusste wer viel von zuhause arbeitete und wer oft nur spät nach Hause kam. Auch Jessica war unten zu sehen. Sie stand bei einigen Frauen, sie lachte. Ruben beobachtete das Treiben im Licht einer einzigen Kerze aus seiner Küche. Wenn der Strom bis zum Morgen nicht wieder da war, musste er erneut zum Kiosk.

Gegen Mitternacht wurde es endlich ruhig draußen. Ruben schlief in seinem Küchenstuhl ein. Bis ihn ein Rumpeln im Flur weckte. Zuerst glaubte er, der Strom wäre wieder da und seine Tiefkühltruhe war wieder angesprungen. Doch dann hörte er ein Ächzen. Etwas Schweres wurde draußen durch den Flur gezogen. Ruben hatte keine Ahnung wie spät es war. Draußen war es stockfinster. Ruben hörte die Haustür aufge­ben und erhob sich, um zum Fenster zu wanken.

Zuerst konnte er kaum etwas erkennen, doch dann kam der Mond durch die Wolken hindurch und bewarf die Straße mit Licht. Es war Eric. Sein SUV parkte direkt auf dem Bürgersteig. Der Kofferraumde­ckel war offen und er zog etwas Großes und Schweres, etwas in Müllsäcke verpacktes und verschnürtes über den Gehsteig. Etwas, das nach einer Leiche aussah. Ruben schob den Vorhang zur Seite und beobachtete, wie Erie das schwere Etwas in seinem Kofferraum wuchtete. Dann warf er den Deckel zu und starrte geradewegs in Rubens Fenster, direkt in seine Augen. Und Ruben wusste, was er getan hatte, sah es in seinen Augen.

Ruben glitt vom Fenster zur Seite. Sein Atem ging flach, als er hörte, wie Eric zurück ins Haus trat. Seine Schritte gingen zu Rubens Wohnungstür, dann begann er zu klopfen. Wieder und wieder. Ruben schritt zur Tür und öffnete sie einen Spalt.

„Hallo, alter Mann“, raunte Eric und stieß die Tür auf. Er drückte Ruben gegen die Wand im Flur, seine Ellbogen saßen in seiner Kehle. „Wie schön, dass du noch wach bist. Ich wollte sowieso zu dir.“

„Ich habe nichts gesehen“, krächzte Ruben.

„Oh doch, du hast etwas gesehen. Du hast gesehen, wie Jessica das Haus mit zwei Koffern verlassen hat. Sie wurde von einem Wagen abgeholt. Nicht wahr?“ „Ja. Genau das habe ich gesehen.“ Ruben japste nach Luft.

„Denn wenn du etwas anderes gesehen hättest, müsste ich die Polizei vielleicht auf deine riesige Kühltruhe hier hinweisen. Wozu braucht ein alter Mann wie du so eine große Truhe? Und wieso rennst du bei jedem Stromausfall Eiswürfel holen?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Ich meine Ellen, deine Frau. Sie liegt da drin, nicht wahr?“ Ruben spürte, wie es ihm eiskalt den Rücken herunterlief. „Niemand hat je gesehen, wie Ellen dich verlassen hat. Sie war einfach verschwunden, hat dich einfach verlassen. Ich nehme an, du hast sie im Schlaf erwürgt, oder?“ Ruben schwieg, die Angst erstickte ihn beinahe.

„Was soll ich sagen, du hast mich inspiriert. Aber ich werde nicht so dumm sein und mich von einer Leiche an eine Wohnung fesseln lassen. Haben wir uns verstanden?“ Ruben nickte „Ich war das ganze Wochenende golfen. Als ich wieder kam, war sie weg.“

„Ja.“

„Gut so, alter Mann.“ Mit einem Grinsen in der Düsternis wandte Eric sich um und verließ Rubens Wohnung. Er war seit Jahren der erste Gast in Rubens Wohnung gewesen. Und der letzte. Als Eric am Sonntagabend nach Hause kam, blitzte das Blaulicht mehrerer Streifenwagen vor der Tür. Er wollte wenden und weiterfahren, aber die Polizei hielt ihn auf.

„Was ist denn los?“, fragte Eric mit trockenem Mund. „Ihr Nachbar Ruben Clee hat offensicht­lich Selbstmord begangen. In seinem Abschiedsbrief hat er gestanden seine Ehefrau getötet zu haben, wir haben ihre Leiche in seiner Wohnung gefunden.“

„Ich ... Ich hatte keine Ahnung.“

„Woher auch?“ Der Polizist grinste seltsam. „Wo ist Ihre Frau?“

„Ich denke... zuhause.“

„Nein, da ist sie nicht.“

„Ich weiß nicht, ich war das ganze Wochenende...“

„Ihr Nachbar gab in seinem Abschiedsbrief an, er hätte beobachtet, wie sie ihre Leiche aus der Wohnung geschleift hätten.“

„Was? Nein, ich...“

„Wo ist Ihre Frau?“

 

Erics Blick wanderte zum Küchenfenster des alten Mannes. Für einen Augenlid glaubte er, Ruben hinter der Scheibe grinsen zu sehen.

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