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Mord an Halloween

Es war der gruseligste Abend im Viertel. Die imposanten Häuser, erbaut an den Hängen oberhalb - beinahe triumphierend über - der Großstadt, waren mit künstlichen Spinnweben, Geistern und Blut geschmückt. In den Einfahrten leuchteten geschnitzte Kürbisse. Leichter Nieselregen fiel auf die Straße, doch das störte die Kinder nicht. Verkleidet als Hexen, Zombies, Vampire und Monster liefen sie mit Süßigkeitentüten umher und quietschten vor Freude. Kindermädchen verfolgten sie. Bei den Rosenbergs war die Halloweenparty für Erwachsene im Gange, wo Verkleidung verpflichtend war. Einige Jugendliche fuhren auf ihren Skateboards durch die nassen Straßen. Im Privatpark des Viertels gab es ein Lagerfeuer. Die ganze Nachbarschaft wollte sich dem Zuckerrausch hingeben. Es war die perfekte Gelegenheit.

Sie trugen schwarze Overalls und dazu passende Teufelsmasken. Die beiden Frauen bewegten sich wie Fremdkörper durch die Menge, auf dem Weg in die entgegnete Richtung, weg von dem bunten Treiben. Dorthin, wo die Häuser ungeschmückter und dunkler wurden, die Stimmen der Kinder kaum zu hören waren. Nebel zog auf, als sie ihrem Ziel nahekamen.

„Sie ist zuhause“, raunte Meredith Eschner, als das Haus am Ende der Sackgasse in Sicht kam. Ein eckiger Bau, der ein wenig an einen verschobenen Haufen Bauklötze erinnerte. Im unteren Stockwerk brannte Licht. „Sie wird uns schon nicht sehen. Und wenn doch, wird sie uns in den Verkleidungen nicht erkennen.“

„Theresa wir sollten noch einmal darüber nachdenken. Überleg doch mal, wie peinlich das wäre, würde das ganze Viertel erfahren, dass wir wie Landstreicher in Mülltonnen …“

„Peinlich?“ Theresa von Bergmann nahm ihre Maske ab. Der Regen nässte ihr das Gesicht. „Diese verbitterte, ökologische Alte möchte zur Vorsitzenden des Nachbarschaftsrates gewählt werden! Sie will uns die Weihnachtsbeleuchtung verbieten! Und die Steingärten. Sie hat sich schon informiert, ob Ladestationen für Elektroautos hier angebaut werden können! Wenn du zulassen willst, dass sie die Nachbarschaft verschandelt, dann bleib hier. Wenn du deinen Justus in Zukunft in einem Spielzeugauto zur Schule fahren möchtest, dann hilf mir nicht! Aber auf meinem Dach wird an Weihnachten ein Rentier stehen, mit einer verflucht großen, roten Nase!“ Theresa ließ ihre Maske wieder über ihr Gesicht gleiten und huschte in die Einfahrt des Anwesens von Annegret Steinhoff. Meredith zögerte. Widerwillig folgte sie Theresa schließlich. Gebückt schlich sie zu den Mülltonnen, die neben der Garage standen.

„Ich habe immer noch nicht verstanden, wonach wir jetzt genau suchen“, raunte Meredith, als sie jeweils eine Tonne aufklappten. Der Geruch verschlug ihr für einen Moment die Sprache. „Nach allem, womit wir sie vor dem Komitee bloßstellen können. Abnehmpillen, Antidepressiva, Rabattmarken, Seconhand.“ „Und wenn wir nichts finden?“

Während Theresa beinahe kopfüber in die Tonne eingetaucht war, benutzte Meredith nur zwei Finger, um die Suche voranzutreiben. „Dann legen wir eben etwas rein. Das habe ich dir doch schon erklärt. Wir … Oh was haben wir denn da?“ Theresa griff mit beiden Händen ihre Fundstücke heraus. „Discounterwein, Billigschinken und ein Flugticket für die Holzklasse?“

„Was hat das zu bedeuten? Hat sie Geldsorgen?“

„Vielleicht stimmt das Gerücht ja doch und ihr Mann wurde gefeuert.“ „Ich habe gehört, er verkauft jetzt Gebrauchtwagen.“ Theresa zuckte mit den Schultern. „Beides wird sie die Wahl kosten.“ „Können wir dann jetzt gehen? Ich …“ Meredith brach ab. In der Mülltonne glitzerte etwas. Etwas längliches, spitzes. Ein Küchenmesser. Ein Küchenmesser mit Blut an der Klinge. „Theresa!“ Atemlos deutete sie in die Tonne. „Was ist denn?“ Theresa kam zu ihr und folgte ihrem Blick. „Das ist doch nur ein Messer!“ „Mit Blut daran!“ „Sie wird Fleisch geschnitten haben. Oder denkst du …“

Schreie hallten durch die feuchte Luft. Meredith fuhr herum. „Was war das?“ Die Nebelschwaden legten den Rest der dunklen, einsamen Straße in undurchsichtigen Dunst. „Jetzt reiß dich doch mal zusammen. Das waren die Kinder um die Ecke. Oder ein Videospiel. Du bist …“ Ein weiterer Schrei zerriss die Dunkelheit. Der schrille, panische Schrei einer Frau. Und er kam eindeutig aus Annegret Steinhoffs Haus. „Was war das?“ „Das war sie! Sie ist da drin!“ Meredith sprang zurück und deutete auf die nasse Fassade. „Jetzt beruhig dich doch! Wenn du weiter so schreist, wird sie gleich aus dem Fenster schauen!“ „Dann lass uns endlich gehen. Ich …“ Mit einem elektrischen Surren begann sich plötzlich der Rollladen am Fenster im dritten Stock direkt über ihren Köpfen zu heben. „Ich sagte doch, sie ist zuhause! Wir müssen …“ „Sscht! Lass uns …“ Theresa wollte Meredith am Arm packen und von der Einfahrt zerren, doch ihre Augen waren gebannt auf das vom Rollladen entblößte Fenster gerichtet.

„Oh mein Gott“, wisperte sie plötzlich. „Was ist denn?“ „Da!“, stieß Meredith hervor und nickte ihren zitternden Arm auf das Fenster. Theresa folgte ihrem Blick. Füße baumelten über dem Boden, ungefähr einen halben Meter oberhalb des Parkettbodens, als würden sie schweben. Zenti­meter um Zentimeter gab der Rollladen Waden, Oberschenkel, den Oberkörper und schlaff seitlich herabhängende Arme preis. Der Körper war in einen schwarzen Rock und eine schwarze Bluse gehüllt. Rotes Blut tropfte irgendwo aus der Bauchregion. Perlen um den Hals der Frau kamen zum Vorschein und schließlich ihr lebloses, blasses Gesicht, die getönten braunen Haare. Es war Annegret Steinhoff, die an einem Strick von der Decke baumelte, ihre sonst so bitteren Falten zur Leblosigkeit erschlafft. „Um Himmels Willen“, entfuhr es Theresa und für einen Augenblick befürchte sie, ohnmächtig zu werden. Dann geschah alles ganz schnell. Plötzlich trat eine Figur ans Fenster.

Dunkel gekleidet, wie die beiden Frauen, mit einer schrecklich, furchteinflößenden Clownsmaske auf dem Kopf. Orange Haare standen wirr von den Schläfen ab. Das Grinsen hatte etwas Boshaftes. Ehe Theresa den Anblick, der sich ihr bot, vollständig aufnehmen konnte, stieß Meredith einen spitzen Schrei aus und rannte davon.

„Meredith!“ Sie antwortete nicht. Ihr Schreien und das Widerhallen ihrer Schritte waren alles, was sie noch hörte, als der dicke Nebel sie geschluckt hatte. Sie wollte ihr folgen, ohne zu wissen, weshalb, doch ihre Füße schienen mit dem Asphalt verwurzelt. Auf einmal rauschte das Blut in ihren Ohren. So druckvoll, dass kein anderes Geräusch mehr zu ihr durchdrang. Als sie ihre Augen wieder zum Fenster hob, war der Clown verschwunden. Die Leiche von Annegret Steinhoff baumelte noch immer am Fenster. Theresas Atem kam stoßweise. Wie von weit her, drang das Zuschlagen einer Tür an ihre Ohren, Schritte bewegten sich in ihre Richtung. Das Adrenalin flutete ihren Körper, befreite sie aus ihrer Starre.

Theresa rannte los, mitten hinein in diesen dichten Nebel. Sie rannte durch die Straßen, die mittlerweile wie ausgestorben schienen. Keine Menschenseele tauchte im Nebel vor ihr auf, das vergnügte Quieken der Kinder war ver­stummt. Sie hörte nur ihre Schritte und ihren Atem, während sie um Ecken rannte, Mülltonnen auswich und langsam die Orientierung verlor. Als ihre Lungen brannten und ihre Beine unter ihr nachgeben wollten, blieb sie stehen und riss sich ihre Maske vom Kopf. Sie befand sich in einer Sackgasse. Vor ihr türmte sich ein dunkles Haus mit verwaister Einfahrt auf, rechts war eine nasse Hecke und links ein kleiner, dunkler Fußweg. Theresa warf ihren Kopf herum, vor ihren Augen flimmerte es. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, in welchem Teil des Viertels. Ihre Knie zittern, als sie auf die Haustür vor ihr zuschritt, um den Namen an der Klingel lesen zu können. Wenn sie den Namen las, würde sie wissen, wo sie war. Und dann würde sie nach Hause finden und vergessen, was sie gesehen hatte. Es war ganz sicher ein schlechter Halloweenscherz gewesen. Doch sie hatte keine zwei Schnitte getan, als sie ein Rascheln in den Hecken hörte. Sie fuhr herum, erwartete einen Vogel oder eine Ratte zu sehen. Doch da war nichts. „Hallo?“ Es kam keine Antwort.

 

„Ist da jemand? Meredith?“ Sirenen hallten in der Nähe wider. Ganz in der Nähe. Sie musste nur den Weg zurückgehen, den sie gekommen war! Theresa drehte sich um - und starrte geradewegs in die Clownsmaske. Blaue Spiralen als Augen, ein wahnsinniges Grinsen und dazu wild abstehende orangefarbene Haare. Ehe ein Schrei aus ihrer Kehle dringen konnte, hob der Clown seinen Arm. Eine Messerklinge blitzte im Licht der Straßenlampe auf. Als der Arm wieder nach oben schnellte, war die Klinge blutrot.

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