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Piano

In kleinen Städten waren kleine Dinge sehen immer sehr groß. Valerie hatte gerade die letzten Kostüme in der Garderobe verstaut, die nun nach der Probe verlassen dalag, als sie das Klavier hörte. Sie erkannte die Melodie, das Stück sofort. Es war ihr Lieblingslied, sie hatte es damals unzählige Male gespielt.

Die Holzdielen knarrten unter Valeries Schritten, als sie durch den dunklen Flur zur Bühne des alten Gemeindehauses schlich. Nur das Bühnenlicht brannte noch, der Scheinwerfer über dem weißen Klavier. Sie spielte ohne Noten, sie kannte sie alle auswendig. Im Scheinwerferlicht schimmerten ihre vielen grauen Strähnen. Valerie blieb in ihrem Rücken am Rande der Bühne stehen. Sie folgte der Melodie, die dem mühelosen Wind glich, ihr Blick glitt über die leeren und dunklen Stuhlreihen im Zuschauersaal unterhalb der Bühne.

Ihre Gedanken glitten in die Vergangenheit, zu Tagen, wo ihre Haare noch keine Spur von Gran aufgewiesen hatten, während sie mit ihren Fingen durch sie gelitten war. Die Melodie wurde intensiver, lauter, tiefer. Ihre Finger schlugen in die Tasten, sausten über sie, wie von Fäden ge­zogen. Valerie sah ein aufgewühltes Meer vor sich, Klippen, auf die das Schiff Gefahr lief, zu laufen und dann zu Bersten. Sie kannte ihr Gemüt in diesem Zustand, ihr Temperament, sie erinnerte sich an zerbrochene Teller.

Der Sturm legte sich. Die Melodie wurde ruhiger, leiser und heller. Das Meer war gezähmt, die See lag spiegelglatt vor ihr. Valerie brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie aufgehört hatte zu spielen. Es war still um sie herum geworden. Sie saß noch immer mit dem Rücken zu ihr am Klavier, hatte sie noch immer nicht bemerkt. Doch als Valerie nun zu klatschen begann, fuhr sie erschrocken herum. Sie blinzelte in die Düsternis, ehe ihre Augen sich trafen.

„Ich wusste nicht, dass du noch da bist.“

„Du spielst immer am besten, wenn du denkst, das niemand zuhört.“ Valerie trat in die Mitte der Bühne, die Dielen knarrten unter ihren Schritten, ehe sie sich auf einen Stuhl in der Mitte niederließ. Sie konnte Margaretes Gesicht im Licht des Scheinwerfers erkennen, den Schatten auf ihren Augen, die Härte, die Enttäuschungen, den Schmerz in ihren Zügen. „Wie gehts dir denn?“ Es war einige Wochen her, dass sich die Trennung bis zu ihr herumgesprochen hatte. Und doch war es das erste Mal, dass sie darüber sprachen, obwohl sie sich seitdem unzählige Male bei den Proben gesehen hatten. „Gut. Und dir?“

„Alles wie immer.“ Und es war alles wie immer. Wenn sie fertig aufgeräumt hatte, würde sie nach Hause fahren, in ihre leere Wohnung, sich ein Tiefkühlgericht in die Mikrowelle schieben und zu irgendeinem Fernsehprogramm essen. Bevor morgen erst ihre Schüler an der Gesamt­schule auf sie warten würden und danach die verschiedenen Altersklassen für die Theaterproben.

„Es ist schon spät. Ich habe morgen Frühdienst im Krankenhaus.“ Margarethe schloss den Klavierdeckel. Der Holzboden ächzte, als sie sich erhoben. Valerie sah ihr zu, wie sie nach ihrer Jacke griff und von der kleinen Bühne kletterte.

„Sehen wir uns nächstes Wochenende bei deinem Bruder?“ Margarethe verharrte. Sie nickte kaum merklich. Doch Valerie kannte jede ihrer Gesten. „Gut.“

 

Die Luft war milder als noch vor einigen Monaten, als sie mit den Proben begonnen hatten. Die Tage waren länger. Dennoch hatte sich die Dunkelheit bereits über die Stadt gelegt. Die Laternen warfen sanftes Licht auf die Fassaden der kleinen Läden. Auf die Kneipe an der Ecke, die mittlerweile von einem Schul­kameraden von ihr in der dritten Generation ge­führt wurde. Valerie fuhr am Orthopädiegeschäft vorbei, an der Eisdiele, in der sie bald wieder mit ihren Schülern in der Sonne sitzen und ihnen zuhören würde, wenn sie von ihrer Zukunft schwärmten. Sie wollten in die ferne Welt hinaus, die engen Gassen hier hinter sich lassen. Sie wollten auf größere Bühnen, als die im Gemeindehaus. Anspruchsvollere Rollen, anspruchs­volleres Publikum, größere Säle, mehr Beifall. Und Valerie konnte es keinem von ihnen ver­übeln. Sie würde sie alle ziehen lassen. Und darauf warten, ob sie zurückkehrten, wenn sie verstanden. Wenn sie verstanden, was Margarethe nun zweifellos verstanden hatte. Wenn sie ver­standen, wie wichtig es war, sich um seine Stadt und ihre Bewohner zu kümmern. Wenn sie verstanden hatten, wie schön es war, etwas aufzubauen, wie sie das mit den Theaterklassen im alten Gemeindehaus getan hatte. Wenn sie verstanden, wie befriedigend es war, junge Menschen zu prägen. Wenn sie verstanden hatten, was Heimat bedeutete. Valerie passierte das Haus, in dem die Darstellerin der Hauptrolle ihrer Jugendproduktion mit ihren Eltern lebte. Erst vor wenigen Tagen war sie zum Paella- Essen eingeladen gewesen. Valerie lächelte zufrieden.

 

Die Frühlingssonne schien Margarethe warm ins Gesicht, als sie das Krankenhaus nach ihrer Schicht verließ. Sie blinzelte. Erst da fiel ihr auf, wie düster es den ganzen Vormittag auf Station gewesen war. Und das nicht nur von den Lichtverhältnissen her. Sie kannte viele Patienten, die auf ihrer Station landeten, kannte deren Kinder und deren Kinder. Sie brachte ihnen Essen, pflegt ihre Wunden und sah einigen hilflos beim Sterben zu. Wie ihrem Vater damals. Die Musik befreite sie von all dem, die Musik hatte sie für eine gewisse Zeit aus all dem herausgeholt. Sie fuhr durch die Stadt zu ihrem Bruder. Er wohnte noch in dem Haus, in dem sie aufgewachsen waren, mit seiner Frau und seinem Sohn. Sie waren um die Ecke zur Schule gegangen, dort wo sein Sohn nun zur Schule ging. Seine Frau arbeitete um die andere Ecke im Restaurant ihrer Eltern.

Anton hatte Urlaub. Sie fand ihm im Garten hinter dem Haus, wo er seinen Grill sauber machte. Der Frühlingswind brachte Bewegung in die Baumkronen. „So verbringst du also deinen Urlaub?“

„Die Party steigt in drei Tagen, bis dahin ist noch einiges zu tun.“

Sie setzte sich auf einen Gartenstuhl. Anton beäugte sie. „Was ist? Du siehst nachdenklich aus.“ Margarethe ließ ihren Blick durch den Garten schweifen. Über den Fußball und das kleine Tor, all die Spielsachen. Wie damals in ihrer Kindheit. „Wie lang hast du Urlaub?“

„Zwei Wochen. Zwei Wochen Freiheit.“

„Und ihr fahrt nicht weg?“

„Wohin sollen wir denn fahren?“

„In die Berge? An den Strand? Einfach mal raus.“ Anton sah sie beinahe belustigt an. „Mein Garten reicht mir. Ich bekomme schon von deinen Geschichten über euren letzten Thailandurlaub Magenschmerzen.“

„Nur weil es das eine Gewürz gab, das ich nicht vertragen habe?“

„Fremde Betten, fremdes Essen“, Anton schüttelte seinen Band, rückte die Kappe auf seinem kahlen Kopf zurecht. „Das entspannt mich nicht. Wieso fragst du? Ihretwegen?“

Margarethe zuckte mit den Schultern, während er den Rost schrubbte. Eine Weile schwiegen sie. Dann drehte er sich zu ihr um. „Es ist nicht deine Schuld, dass sie dich verlassen hat. Sie wollte mehr als das hier. Sie ist jung.“

„Ich wollte auch mehr als das hier.“

„Ja und du warst einige Jahre einige Stunden von hier entfernt und hast auf größeren Bühnen gespielt. Aber du bist wieder hier und hilfst unsere Gemeinde Theaterproduktion am Leben zu halten. Genau wie Valerie. Und ich. Und Beate, Wolfgang, Ina und all die anderen. Hier ist dein Leben. Nicht in der großen, weiten Welt.“

„Ich fahre trotzdem gerne in den Urlaub.“

„Du weißt, was ich meine.“

„Aber spielen wir nicht große, weite Welt? Mit unserem Vorverkauf? Platzanweiser und Programmheften?“

„Wir tun das alles für die Gemeinschaft und die Stadt. Was ist denn mit dir?“

Margarethe seufzte. „Ich weiß es nicht.“

„Trennungen sind immer scheiße. Aber du wirst nicht lange allein sein.“

„Du meinst Valerie?“

„Ihr zwei seid bestimmt füreinander. Ihr beide lebt für das Theater hier. Und es ist klar, dass sie all die Jahre auf dich gewartet hat.“

„Sie hatte in den letzten Jahren niemanden?“

Anton schüttelte den Kopf. „Redet doch einfach mal miteinander. Sie war dir doch auch nie langweilig.“ Margarethe seufzte erneut. „Das nicht. Ich denke nur, das Leben bietet mir mehr als einen Trostpreis.“

 

Der Garten war mit bunten Lichterketten geschmückt, das Gras frisch gemäht. Bierbänke standen um den Grill herum, an dem ihr Bruder das Fleisch wendete. Im kleinen Planschbecken seines Sohnes lag Bier im kalten Wasser. Mit fortschreitender Stunde würde er diie Gin-und Obstbrandvorräte hervorholen, für all die Nachbarn und Freunde, die begeisterten Unterstützer ihrer kleinen Theaterproduktion. Margarethe hatte einen Teller voll Nudelsalat in der Hand, als sie auf den freien Plug neben Valerie zutrat.

„Hast du schon die Bowle deiner Schwägerin in der Küche probiert?“ Valerie hob den Becher nahe an ihre Lippen. Es konnte nicht ihr erster sein. „Nein, ich bleibe erstmal beim Bier.“ Sie schob sich die erste Gabel in den Mund.

„Du bist jetzt den Sommer über hier, oder?“

Margarethe gab ein Schrauben von sich. „Ja, ich denke der Städtetrip fällt aus. Wieso?“

„Ich hatte neulich eine Idee. Was hältst du davon, wenn wir mit den Jugendlichen eine Art Workshop machen? Wir fahren in eine Jugendherberge und proben neue Stücke am Lagerfeuer oder am See?“ Ihre Augen blitzten begeistert. „Du meinst, etwas wie einen Theater- Workshop? Das was damals der Leiter mit uns...“

„Die Kinder würden sich freuen, oder? Und wenn sie das ihren jüngeren Geschwistern er­zählen, ziehen wir uns neuen Nachwuchs heran.“

„Ja, das klingt nach einer guten Idee.“

Valerie lächelte. „Ich habe schon ein paar Ideen gesammelt. Wir können nächste Woche mal essen gehen und alles besprechen? Wenn dein Dienstplan das zulässt?“ Die Musik wurde aufgedreht. Die rockigen Klänge von AC/DC flogen durch den Garten. Da alle Nachbarn hier waren, würde sich niemand über den Lärm beschweren. Margarete schluckte. „Hältst du das für eine gute Idee?“

„Dass wir esse gehen?“ Valerie lächelte sie beschwipst an. „Ja. Du brauchst das Theater. Und das Theater braucht dich, deine Musik, deine Erfahrung.“

„Du bist das Theater hier. Niemand investiert so viel wie du...“

Valerie schüttelte den Kopf. „Wir sind das Theater hier. Die Stadt braucht uns. Egal was zwischen uns passiert ist, wir haben beide alles für die Gemeinde gegeben. Und wir können noch so viel mehr erreichen.“

„Zusammen?“

„Zusa­mmen.“ Valerie drückte ihre Hand, ehe sie sich erhob, um sich noch eine Bowle zu holen. Die Berührung durchzuckte sie. Margarethe sah ihr hinterher und fing dem Blick ihres Bruders auf. Vielleicht hatten sie recht. Die großen Bühnen und die großen Städte hatten sie durchgenommen und ausgespuckt. Sie hatte Isabelle alles bieten wollen, aber nicht viel mehr zu bieten, als diese Gemeinde. Und hier war die Theaterproduktion das Herz der Gemein­schaft. Sie und Valerie wann das Herz. Vielleicht war es an der Zeit, eine Weile leise Töne zu spielen. Sie hatten sie schon einmal zu einer Melodie zusammengefügt. Und manchmal ergaben auch die simpelsten Akkorde, schöne Melodien. Hier waren sie unentbehrlich.

Vor allem in kleinen Städten, waren kleine Dinge schon immer sehr groß.

 

 

 

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